Literarisches Museum "Tschechow-Salon" in Badenweiler (Tschechow, Crane, Hesse, Kolb, Schickele, Wohmann)

Das Literarische Museum „Tschechow-Salon“ in Badenweiler und seine Rolle als Plattform internationaler Kulturaktivitäten

„Sei mir gegrüßet, Badenweilers Au! / Ein Stück Italien auf deutschem Grund / (…)“,

so hatte Mitte des 19. Jahrhunderts noch der schwäbische Arzt und Dichter Justinus Kerner als häufiger Gast des Heilbades gereimt.

Dass Badenweiler heute als einziger Ort Westeuropas ein literarisches Museum für den russischen Schriftsteller und Dramatiker Anton Pawlowitsch Tschechow (1860-1904) besitzt, in dem aber auch noch die literarischen und persönlichen Beziehungen von Stephen Crane (1871-1900), Hermann Hesse (1877-1962), Annette Kolb (1870-1967), René Schickele (1883-1940) und Gabriele Wohmann (*1932) zu dem Schwarzwälder Kurort dokumentiert sind, ist einer in Deutschland unikalen literaturhistorischen Gedenkkultur geschuldet. Im Falle Tschechows reicht diese über ein Jahrhundert zurück und ist zudem mit den deutsch-russischen Beziehungen des Kurortes wie der Geschichte Badens fest verbunden.

Der  „Tschechow-Salon“ im Kurhaus wurde 1998 als rezeptionshistorisches Museum der Gemeinde Badenweiler eröffnet und „erzählt“ in jeder Abteilung eine andere Geschichte von Badenweiler und Person, Werk und Wirkung „seiner“ Literaten. Fast immer bedeutet dies einen intensiven Blick über nationale und kulturelle Grenzen hinweg, wobei deutlich wird, dass unser Literaturverständnis stets dem aktuellen gesellschaftlichen Wandel unterliegt und  Rezeptionsvermittlung auch Entwicklung von kultureller Identität wie historischem Selbstverständnis bedeutet. Dabei reicht das museale Erfahrungsangebot Badenweilers weit über die gläsernen Museumswände hinaus, die Innen- und Außenwelt kaum zu trennen scheinen. Die in über 100 Jahren gewachsene vielfältige „Denkmalslandschaft“ Badenweilers, welche u.a. durch Texttafeln vor Ort erschlossen wird und alleine sechs Gedenkstätten für Tschechow aufweist, ist unbedingt zum aktuellen Museumserlebnis hinzuzuzählen.

Das  im „Tschechow-Salon“ dargestellte Literaturgeschehen setzt Ende Mai1900 mit dem amerikanische Schriftsteller, Dichter und Kriegskorrespondenten Stephen Crane ein, einem der Begründer des amerikanischen Naturalismus und der Moderne. Crane, der mit den Romanen „Maggie – a Girl of the Street“ [Maggie – das Straßenkind, 1893],  „The red Badge of Courage“ [Die rote Tapferkeitsmedaille, 1895] und vor allem seinen meisterhaften Erzählungen wie „The Open Boat“ [Das offene Boot] neue literarische Maßstäbe für moderne Objektivität des Erzählens setzte, kam als Tuberkulosekranker im letzten Stadium nach Badenweiler. Auch der renommierte Arzt Dr. Albert Fraenkel konnte ihm nicht mehr helfen, Crane starb am 5.6.1900. Seit Mitte der 1950er Jahre pflegt die Gemeinde die Erinnerung an ihn. Zum 100. Todesjahr richtete Badenweiler die größte Crane-Gedenkfeier des Kontinents aus und setzte vor seinem Sterbehaus eine bronzene Gedenktafel.

1909 hatte sich dann Hermann Hesse bei Dr. Fraenkel eingefunden, um Heilung von seinen Depressionen zu suchen, was in der autobiografischen Erzählung „Das Haus zum Frieden“ seinen Niederschlag fand.

René Schickele, den deutsch-elsässischen Schriftsteller, Journalisten und Mitbegründer des deutschen Expressionismus zog 1922 allerdings wirklich der Liebreiz der Landschaft und der weite Blick ins Rheintal nach Badenweiler. Hier erfuhr der 1918 vom Krieg und der Revolution in Berlin zutiefst Deprimierte seine geistige Auferstehung. Schon vor und im Ersten Weltkrieg hatte er sich vehement gegen jeden Nationalismus und für die europäische Aussöhnung engagiert, nun fand er in seinem neuerrichteten Haus in Badenweiler zum Schreiben zurück, es entstanden u.a. sein Hauptwerk, die Trilogie „Das Erbe am Rhein“ (1925-1931), die „Symphonie in Jazz“(1929),  teilweise der Roman „Die Witwe Bosca“ (1933) sowie seine großen kulturphilosophischen Essays, mit denen er dem Elsass die Versöhnungsmission zwischen Deutschland und Frankreich zuschrieb. Mit seinem Erinnerungsbuch „Die himmlische Landschaft“ schuf er die vielleicht schönste Prosahymne für Natur und Ort, bevor er kurz vor der Machtergreifung Hitlers Ende 1932 ins französische Exil ging, wo er 1940 in Vence verstarb.

Die deutsche Schriftstellerin Annette Kolb, dem deutschen wie dem französischen Kulturkreis zugehörig, war als originell-spleenige „grande dame“ der europäischen Literatur und spätere Ehrenbürgerin Badenweilers bereits 1923 ihrem Freund R. Schickele nach Badenweiler nachgefolgt, um von hier fast ununterbrochen in Europa unterwegs zu sein. Für ihre meist autobiografischen Romane wie „Daphne Herbst“ [1928], „Die Schaukel“ [1943] und ihre unerschrockenen Essays gegen den Krieg und für die Aussöhnung mit Frankreich wurde sie nach 1950 mit Ehrungen überhäuft.

Gabriele Wohmann ließ sich in den 1970er Jahren als Kurgast von den Schönheiten der Landschaft Badenweilers bezaubern, hier entstand ihr wohl bekanntester Roman „Frühherbst in Badenweiler“, eine auch stilistisch innovative Analyse der deutschen Befindlichkeit nach dem „deutschen Herbst“.

Fast 10 % aller Kurgäste kamen nach der Jahrhundertwende aus dem Russischen Reich nach Badenweiler. Doch der Namensgeber des Museums, der Arzt und Schriftsteller Anton Tschechow, war am 23.6. 1904 wie Crane vier Jahre zuvor angereist, um sich gegen TBC behandeln zu lassen. Badenweiler hatte zwar bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begonnen, sich auf die balneologische Anwendung des Thermalwassers zu konzentrieren, dennoch besaß  der  Ort nach 1900  immer noch den Ruf einer profunden TBC-Heilstätte.  Aber auch für Tschechow war es zu spät, nach ersten Anfangserfolgen des sogar in Russland renommierten Großherzoglichen  Badearztes Dr. Josef Schwoerer  erlag er am 15.7.1905 im damaligen Hotel „Sommer“, der heutigen Reha-Klinik „Park Therme“, seiner Krankheit.

Vier Jahr danach errichteten russische und deutsche Freunde und Verehrer, darunter der berühmte Regisseur des Moskauer Künstlertheaters, Konstantin Stanislawski, sowie Dmitri von Eichler, russischer Botschafter in Ministerrang im Großherzogtum Baden, dem ausländischen Autor  in Badenweiler ein Bronzedenkmal. Es war das erste Denkmal für Tschechow, gleichzeitig das erste für einen russischen Schriftsteller außerhalb seines Heimatlandes. Auch für das Deutsche Reich war dies ein historisches Novum. Hatte der bisherige Denkmalsboom des Wilhelminischen Kaiserreiches, das 1871 in Versailles ohne demokratische Legitimation durch das Volk entstanden war, vor allem darauf gezielt, durch die Fülle von Denkmälern deutscher Monarchen und bürgerlichen Klassikern der Hochkultur die Einheit von aristokratischem Staat und Bürgertum zu beschwören, so erhielt nun erstmals ein ausländischer Schriftsteller durch ein Denkmal Klassikerstatus. Von Eichler übergab zudem das Denkmal „dem badischen Volke“ und nicht nur Badenweiler, was zugleich ein Versuch war, den politisch schwierig gewordenen Beziehungen Russlands und Deutschlands durch die Kultur entgegen zu wirken – ein Verfahren, das letztlich bis heute aktuell ist. Zwölf Tage nach einer weiteren deutsch-russischen Gedenkfeier vor Tschechows Denkmal  im Jahr 1914 brach der  Ersten Weltkrieg aus, in dessen letztem Jahr das Denkmal eingeschmolzen wurde. Während der Nazi-Diktatur blieb Tschechow als dekadent gebranntmarkt.

Erst 1954, zum 50. Todesjahr, wurde wieder eine Gedenkfeier zu Ehren Tschechows abgehalten, seither befindet sich die Badenweilerer Gedenkkultur für ihn in ununterbrochenem Aufwind.

Ab 1956, mitten im Kalten Krieg, entstand bereits das erste Projekt zur Wiedererrichtung des alten Denkmals. Zudem wurde zur Dokumentation des Gemeindeengagements zur „Aussöhnung mit dem ehemaligen Kriegsgegner Sowjetunion“,  so eine Ratsprotokollnotiz, das Tschechow-Archiv gegründet, das damit wohl als das älteste kommunale Archiv für einen russischen Autor in Deutschland anzusehen ist und Grundlage des Museums wurde. Einer der bedeutendsten Archivbestände sind über 300 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel aus dem Jahr 1960 zur westeuropäischen  „Umwertung“ Tschechows vom sozialkritisch- impressionistischen Autor zum Begründer des modernen literarischen Dramas. Das zeitgleich geplante Denkmalsprojekt schrumpfte allerdings angesichts der Eskalation des Kalten Krieges zu Beginn der 1960er Jahre auf einen Gedenkstein zusammen, der 1963 zudem nicht am alten Ort, dem Burgberg, sondern unscheinbar am Schwanenweiher aufgestellt wurde. Dennoch erlangte dieser Platz sogar politische Bedeutung: Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg war auf Einladung des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard 1964 eine Gruppe  sowjetischer Journalisten nach Deutschland gereist – und zwar direkt nach Badenweiler – denn der „Tschechow-Stein“ bot den idealen Start, um das neue friedenswillige Deutschland vorzustellen.

Seit Anfang der 1970er Jahre hat Badenweiler die Zusammenarbeit mit der deutschen universitären Slavistik wie auch mit russischen Institutionen gesucht. Ein großer Teil des frühen musealen Bildbestandes kam so 1979 als Geschenk des Moskauer Tschechow-Zentralmuseums nach Badenweiler. Seither verging kein Jahr in Badenweiler, ohne dass die moderne internationale Tschechow-Rezeption in Badenweiler ihre Spuren hinterlassen hätte.

Die bisher bedeutendsten wissenschaftlichen Unternehmungen, welche im Museum ihren Niederschlag erhielten, waren die drei großen „Internationalen Tschechow-Symposien“ in Badenweiler, organisiert vom Slavischen Seminar der Universität Tübingen und deren Partneruniversitäten in 1985, 1994 und 2004, jeweils mit fast 100 Referenten aus 19 Ländern. Eine Folge des ersten Symposiums führte zur Wiedererrichtung des neuen bronzenen Tschechow-Denkmals 1992 am alten Platz am Burgberg, gestiftet von Tschechow-Verehrern der 12.000 km entfernten ehemaligen zaristischen Sträflingsinsel Sachalin.

Seit 1999 dient der „Tschechow-Salon“ zudem als Veranstaltungsplattform des „Internationalen Literaturforums Badenweiler“, das bisher über 150 Veranstaltungen durchgeführt hat, viele zu den im „Salon“ vertretenen Autoren, aber auch zu anderen zeitgenössischen Schriftstellern des In- und Auslands, womit sich das Museum, das die gesamte Infrastruktur des Kurortes nutzen kann, als Kulturbrücke für literarische Begegnungen etablierte.

2002 unterzeichnete Badenweiler eine Kulturpartnerschaft mit Tschechows Geburtsstadt Taganrog und dem Kulturministerium der Landeshauptstadt Rostow-am-Don, was sich hinsichtlich der Intensivierung der kulturellen Projektplanung und des musealen Austauschs als Quantensprung erwies, verging doch  bisher kein einziges Jahr ohne gemeinsame Projekte. Bisheriger Höhepunkt der deutsch-russischen Gedenkkultur im Kurort war der 100. Todestag in 2004, welcher mit über 40 Einzelveranstaltungen als wichtigstes Literaturprogramm innerhalb der „Kulturbegegnungen 2003/04 der Russischen Föderation und der Bundesrepublik Deutschland“ durchgeführt wurde, darunter ein Exklusivgastspiel des Moskauer Künstlertheaters.

Auch das dem Museum zugrunde liegende Literaturarchiv im Rathaus Badenweilers ist  nicht nur ein Ort des Bewahrens, sondern auch der Begegnung wie der virtuellen  zeitgenössischen Literaturrezeption geworden. So ist bereits seit Ende 2007 der gesamte Bestand des Crane-Archivs und eine mehrsprachige Website zu „Stephen Crane in Badenweiler“ im Internet einsehbar, entwickelt  von Studierenden der Universität Freiburg. Ein „virtuelles“ 3-D-Museum im Internet zum Lebensweg Tschechows ist als Kooperation von Museum und  Russischer Südlicher Universität in Taganrog im Jahr 2010 fertiggestellt worden. Und ein ambitioniertes Projekt war die Gründung der „Deutschen Tschechow-Gesellschaft“ in Badenweiler, womit der Kurort seine bisherige Rolle als grenzüberschreitende Anlauf- und Koordinationsstelle für Tschechow-Projekte mit der Hilfe von Museen, Universitäten, Theatern und Lesern zu institutionalisieren beabsichtigt.

(Erstpublikation in „Allmende – Zeitschrift für Literatur“, 2008/8, S. 109-113, aktualisiert 2012)

Heinz Setzer (Museumsleiter)