und Deutschland

Tschechow als Modernist und „Zeitgenosse“ in Deutschland

In Deutschland waren 1904 zwar schon viele Erzählungen Tschechows in Übersetzungen erschienen, sogar bereits in einer zweibändigen Ausgabe. Als sozialkritischer Autor, Satiriker und „russischer Maupassant“ galt er auch im Westen als literarische Größe. Doch seine Dramen waren bis auf seine humoristischen Einakter noch unbekannt.

Es wäre keineswegs ungewöhnlich, wenn wir uns heute Tschechow aus einer großen historischen Distanz, sozusagen wie einem literarischen Fossil des vorletzten Jahrhunderts nähern müssten. Doch sein Werk ist bisher auf erstaunliche Weise dem literarischen Alterungsprozess enthoben geblieben.

Zu seinem 100. Geburtstag im Jahre 1960 schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Tschechow „herrsche“ auf den deutschsprachigen Bühnen. Und 2002, also 42 Jahre später, war Tschechow nach einer Statistik von „Theater heute“ nach Shakespeare der meistgespielte Dramatiker deutschsprachiger Bühnen. Und 2010 hatte sich dieser Rekord wiederholt.

Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass gerade Tschechow, den Thomas Mann bereits vor 56 Jahren in seinem Essay „Versuch über Tschechow“ als einen der leisesten, skeptischsten und unaufdringlichsten Schriftsteller aller Zeiten wertete, ein so nachhaltiges Echo bewirken konnte.

Tschechow ist ein schwieriger Autor, der unter der scheinbar ruhigen Oberfläche seiner Erzählungen und Dramen ganz anderes bewirkt als erwartet. Der Germanist Gerhard Bauer hat für ihn das Etikett „sanfter Radikaler“ geprägt, womit viele Einzelerkenntnisse der Forschung überzeugend benannt wurden.

Tschechows subtile und sensible Dichtung, seine scheinbar belanglosen Alltagsepisoden, die sich am Leben durchschnittlicher Menschen abarbeitende Fragwürdigkeit großer Ideen und Visionen, seine Skepsis gegenüber jeglicher Ideologie und seine distanzierte, fast wissenschaftliche Betrachtungsweise besitzen eine subversive Kraft, die ihn viel eher mit unserer relativistischen Gegenwart als mit dem 19. Jahrhundert verbindet.

Seine Außergewöhnlichkeit wurde schon früh bemerkt, sein großer Theater-Interpret und Freund des Moskauer Künstlertheaters, der Schauspieler und Regisseur Konstantin Stanislawski, verkündete 1926 mitten im bolschewistischen Russland, dass der bürgerliche Tschechow ein Meilenstein auf dem Weg der Kunst sei und wie alle Genies, welche Eckpfeiler der Kunst verkörperten, Generationen überflügele.

Stanislawski hatte übrigens mit Tschechows Gattin Olga Knipper-Tschechowa drei Mal Badenweiler aufgesucht,– 1908, 1914 und 1929 –  mit ihm verbindet sich durch die Errichtung des weltweit ersten Tschechow-Denkmals die Grundlegung der Tschechow-Gedenkkultur des Heilbads.

Stanislawski sollte übrigens recht behalten, Tschechow hat die Sowjetunion, welche ihn als Sozialkritiker und Vorläufer des Sozialistischen Realismus klassifizierte, nicht nur unbeschadet überstanden, heute ist Tschechow zur Galionsfigur der russischen Literatur geworden – gerade wegen seiner Ideologieferne.

Das ehemals kommunistische Osteuropa hat sich heute weitgehend der westlichen Diskursrichtung angeschlossen, Tschechow sei einer der Grundleger der literarischen Moderne.

1960 schrieb so Gerhard Schön im „Westdeutschen Tageblatt“, „poésie pure“ habe der Westen von Tschechow erhalten, der Osten hingegen „poésie engagée“, für den Autor selbst habe diese Teilung nie bestanden. Besonders seine Dramen entfesseln die Schubkräfte, welche den „interpretive turn“ zum modernen Autor in Gang setzen.

Der amerikanische Dramatiker Eugene O’Neill etwa schrieb schon in den 1920-er Jahren, dass Tschechow die „perfektesten Stücke ohne Plot“, also ohne Handlung, verfasst habe. „Ohne Plot“ galt O’Neill als Qualitätslabel, da hierdurch die Selbstentfremdung des Menschen, seine Verdinglichung durch Rituale und ökonomische Zwänge der Gesellschaft als künstlerische Entlarvungsstrategie deutlich gemacht würden. Die Propagandisten einer didaktischen Literaturauffassung hatten deswegen an Tschechow wenig Freude. Von der Warte seines epischen Theaterkonzepts bewertete Bert Brecht deswegen Tschechow nur als zweitklassigen Autor – als schreibenden Gesellen ohne feste Weltanschauung.

1960 schrieb Arthur Miller als Konterposition zu Brecht: „Ein Dramatiker liefert Antworten durch die Fragen, die er aufwirft, durch die Konflikte, in die er seine Figuren stellt.“ Man sollte ergänzen: und nicht durch die Lösungen, die er bietet.

Es ist kein Zufall, dass besonders angloamerikanische Leser Tschechow als literarischen Kompass entdecken, wurde doch Tschechow in den USA und in England viel früher als Zeitgenosse erfahren als im deutschsprachigen Raum.

Für diese Verzögerung war vor allem die Kulturpolitik des Dritten Reiches verantwortlich, die Tschechow zwar erst 1941 auf den Index setzte, aber schon 1933 durch die Reichsschrifttumskammer als dekadent und dem deutschen Volkscharakter nicht zuträglich abqualifizierte. In den angloamerikanischen Ländern hingegen fand Tschechow, verstärkt durch deren short story-Tradition nahestehenden Erzählungen, sofort wohlwollende Aufnahme. Der amerikanische Dramatiker Edward Albee etwa quittierte Tschechows Werke mit dem Lob, dieser stehe am Beginn aller dramatischen Dichtung des 20. Jahrhunderts.

In den 1950-er Jahren setzte dann in der Bundesrepublik Deutschland eine interpretatorische Aufholjagd ein, vor allem von Tschechows Rolle als ein Dramatiker, „welcher die bisherigen Gesetze der Dramatik verachte“ (Stuttgarter Nachrichten 16.1.1960) und die ihn an die Spitze der deutschen Theaterrepertoires katapultierte. Für die FAZ (26.1.1960) sind Tschechows Inhalte nur „Vorwand“ für das „Denken über Dichtung“.

Dies begann 1954 mit Thomas Manns großem Essay „Versuch über Tschechow“, in dem er diesen als kongenialen und geistig-seelisch verwandten Zeitanalytiker feierte. Zweifelsohne ein früher Höhepunkt formulieren die „Stuttgarter Nachrichten“ 1960 mit der These: nach dem Erleben von Tschechows Theater könne man sich Ionesco und Beckett sparen. Beide galten damals zusammen mit dem Existentialisten Sartre als die Speerspitze des modernen Theaters.

Tschechow, der seiner Wirkung und Geltung als Schriftsteller stets misstraut hatte und noch kurz vor seinem Tode geäußert hatte, er sei wohl spätestens in sieben Jahren vergessen, erschien nun, zwei Generationen nach seinem Ableben, frischer als je zuvor. Für Rolf Hochhuth war er in den 1980er Jahren zum Modedramatiker schlechthin geworden – ein Zeichen, dass die Tschechow-Begeisterung arge Blüten trieb.

Modeeffekte haben eine kurze Halbwertszeit, doch immer noch ist Tschechow ein extrem schwieriger Autor und die Meßlatte für das Talent eines jeden Regisseurs, wie es Peter Stein einmal formulierte. Im Jahr 2010, seinem Geburtstag, hatte fast jedes Staatstheater und jede Landesbühne in Deutschland Tschechow im Repertoire – keineswegs als comme il faut-Gedenkveranstaltung, sondern als künstlerische Herausforderung.

Tschechows künstlerische Innovationen

Tschechow gilt seit langem als extrem schwierig, vor allem ist es die Komplexität der Kommunikations- und Sinnstrukturen, besonders in den Dramen. Vor dem Hintergrund der klassischen Dramentradition sind sie geradezu antidramatische Ereignisse.

In dem frühen Drama „Onkel Wanja“ etwa schießt die Hauptperson voller Hass auf einen Verwandten – und schießt zwei Mal vorbei. Eine beschämende Situation: nicht einmal zum Rachemord ist der moderne Mensch noch in der Lage, - was bleibt, sind eine halbherzige Versöhnung und der Rückzug auf den Alltag mit kaum realistischen Zukunftsvisionen. Solche ironischen Brechungen von – im traditionellen Verständnis hochdramatischen Situationen – sind typisch für Tschechow. In der „Möwe“ etwa erschießt sich der junge Held unbemerkt hinter der Bühne, den Schuss hält man für eine wegen der Hitze explodierende Ätherflasche. Die Cocktail schlürfende Gesellschaft auf der Vorderbühne erhält die Nachricht nebenbei, niemand hatte den Ernst der Lage begriffen.

In Tschechows Erzählungen und Dramen wird die Welt immer fremder und undurchschaubarer, entsteht eine manchmal bis zum Absurden reichende Diskrepanz zwischen den beschränkten Einsichten und dem Wollen seiner Protagonisten. Nicht selten führt dies zu komischen Situationen, etwa im letzten dramatischen Werk, dem „Kirschgarten“. Trotz des dort inszenierten Abgesangs der aristokratischen Ständegesellschaft bezeichnet Tschechow das Stück als „Komödie“, was schon früh Irritationen bei Regisseuren, dem Publikum und der Kritik auslöste. Veritable komische Stellen gibt trotz der Vernichtung der natürlichen Schönheit des Kirschgartens durch die Heuschrecken des anbrechenden Kapitalismus, doch reicht das Komische auch weltanschaulich über die konkrete Handlung hinaus: der ganzen Existenz des in Wünschen und Widersprüchen gefangenen Menschen haftet etwas Komisches an.

Durch Eitelkeit und Ignoranz oder einfach die Umstände verschuldete, auch durch besten Willen nicht zu beseitigende alltägliche Hindernisse stehen den Helden fast immer haushoch im Weg. Resignation, Pessimismus, Fatalismus könnte man daraus herausdestillieren, doch alleine dies wäre zu einseitig, ja häufig grob gefehlt. Viele Helden Tschechows bewahren sich, auch wenn dies unbewusst und unreflektiert geschehen mag, die Hoffnung auf Glück, auf ein besseres Leben - ein Tschechow-Forscher hat dies einmal den „Hoffnungskompass“ seiner Helden genannt. Und nicht zuletzt ist er ein Autor, dessen Humor auch die meisten tragischen Situationen umspielt. Eine Ideologie, ein Glauben, der dem Einzelnen aber realen Trost und Rettung verspräche, bleibt für Tschechow stets eine durch das Leben nicht zu rechtfertigende Illusion.

Tschechow wäre kein begnadeter Künstler gewesen, hätte er nicht auch das Instrumentarium gefunden, um dieses Changieren zwischen Hoffnung und Skeptizismus, Heiterkeit und Verzweiflung, zwischen praller Sozialkritik und individueller Selbstverschuldung nicht auch ästhetisch überzeugend vermitteln zu können.

An vorderster Stelle sei nur eine stilistische „Erfindung“ genannt, in der es Tschechow zu immer größerer Meisterschaft bringt: der zwischenmenschlichen Kommunikation, die dadurch ihren Höhepunkt erreicht, indem sie scheitert. Scheitern muss, weil niemand mehr richtig zuhört, alle in ihrem Egozentrismus so verwoben sind, dass auch fremdes Leid nur noch selten zur Re-Aktion führt.

Vor allem scheint es keine Sätze mehr zu geben, die man wirklich mitteilen könnte – Sprachlosigkeit breitet sich aus wie etwa im „Kirschgarten“. Das Personal fängt an zu sprechen, doch die Rede zerfasert, bricht mitten im Satz ab oder wendet sich etwas anderem zu.

Es ist Tschechows Chiffre für die zunehmende Verdinglichung des Menschen, für seine Entfremdung von der Gesellschaft, die nur noch ansatzweise begriffen wird und nur noch, wie mit Worten tastend, zu sprechen erlaubt. Von hier aus hilft zumeist nur die Rettung in Rollenklischees und Worthülsen, die in die Absurdität führen.

In dem nach den Katastrophen zweier Weltkriegen und Nazigreuel verunsicherten deutschen Geistes- und Kulturleben ist der künstlerisch begnadete Skeptiker und sensible Analytiker als Zeitgenosse bis heute lebendig geblieben.

Heinz Setzer