Heinz Setzer und Dr. Regine Nohejl
ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter von Rolf-Dieter Kluge in Freiburg und Tübingen und Vorstandsmitglieder der Deutschen Tschechow-Gesellschaft
Das Ende eines lebenslangen Kulturdialogs
Menschen, die uns verlassen, verursachen Leerstellen, umso schmerzlicher und tiefer reichender, wenn es sich um einen endgültigen Abschied handelt. So einen nur schwer fassbaren Verlust bedeutet auch der Tod des Tübinger Slavisten Prof. Dr. Prof. h.c. Rolf-Dieter Kluge am 13. März 2024, unseres ehemaligen akademischen Lehrers, verehrten Kollegen, langjährigen Chefs am Slavischen Seminar der Universität Tübingen und Mitstreiters im Vorstand der Deutschen Tschechow-Gesellschaft e.V.
Obwohl R.-D. Kluge schon länger krank war, kam sein Tod dennoch unerwartet. Es drängt uns, ihm zu Ehren seine außergewöhnliche persönliche wie wissenschaftliche Ausstrahlung und Wirkungskraft in Erinnerung zu rufen und seinen Werdegang zumindest in großen Strichen nachzuzeichnen.
Geboren am 26.6.1937 in Pirna an der Elbe, zog Kluge mit seinen Eltern 1953 nach St. Goar am Rhein. Sein Studium der Germanistik, Philosophie, Geographie und Slavistik, zuerst in Mainz, dann in Berlin, zeugte schon damals von seinen umfassenden wissenschaftlichen Interessen. Nach seiner Promotion zum Dr. phil. in Slavischer Philologie 1965 wurde er zum wissenschaftlichen Assistenten ernannt und bewies er als Leiter des „Akademischen Mainzer Kollegs“ im Studium Generale und als Mitglied des Fakultätsrats und Senats der Universität, dass ihm die Repräsentanz seines Fachs auch in der akademischen Öffentlichkeit ein Anliegen war. Kluge gehörte in der Folge zu den wenigen akademischen Vertretern der Slavistik in der Bundesrepublik, die sowohl den ostslavischen (mit Russisch) wie auch den westslavischen (mit Polnisch) und den südslavischen (mit Serbokroatisch) Literatur- und Kulturbereich vertraten. Dass er bei den staatlichen Dolmetscherexamina beim Hessischen Kulturministerium als Prüfer agierte, bezeugt seine außerordentlichen Fremdsprachenkenntnisse.
Bereits ab 1965 unternahm Kluge mit Mainzer Studierenden insgesamt sieben Studienreisen in die Sowjetunion, ein Anliegen, das er später von Freiburg und Tübingen aus konsequent weiterverfolgte. Es ist ein Beleg dafür, dass er slavistisches Fachverständnis nie nur auf akademisches Bücherwissen beschränkt sehen wollte, sondern ebenso auf die Erforschung und Diskussion der aktuellen Probleme in Kultur und Politik vor Ort. Schon Kluges erste Publikationen bestätigen dies: Etwa „Vom kritischen zum sozialistischen Realismus“ (München: List, 1973), womit er einer der ersten deutschen Slavisten war, der sich dem in der westlichen Slavistik lange gemiedenen Thema der sowjetischen Literaturdoktrin widmete. Seine anschließende kritische Auseinandersetzung mit Maxim Gorki und anderen Vertretern der Sowjetliteratur stieß in der Sowjetunion keineswegs immer auf Gegenliebe. Zudem beschäftigte Kluge sich intensiv mit dem russischen Symbolismus um 1900, einem zum damaligen Zeitpunkt gleichfalls vernachlässigten Forschungsgebiet, wobei der berühmte Dichter Alexander Blok im Zentrum seiner Forschungen stand. Auch die großen Namen der klassischen russischen Literatur, vor allem Alexander Puschkin, Leo Tolstoi, Fjodor Dostojewski und Iwan Turgenjew, blieben stets im Zentrum von Kluges Lehr- und Forschungsinteresse. All dies ließ ihn zum berufenen Interpreten und Vermittler der russischen Literatur- und Kulturgeschichte werden, was bei den Studierenden und weit darüber hinaus in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stieß und die Slavistik von dem Ruf befreien half, ein „Orchideenfach“ zu sein. Im südslavischen Kulturbereich gab Kluge mit der Überarbeitung und Übersetzung der jugoslavischen Literaturgeschichte von Antun Barac (deutscher Titel: Geschichte der jugoslavischen Literaturen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wiesbaden: Harrassowitz, 1977) ein Standardwerk heraus.
Die Freiburger Zeit und Start in Badenweiler
1976 wurde Rolf-Dieter Kluge nach seinem Ruf an die Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i.Br. (1975) zum Persönlichen Mitglied der Internationalen Assoziation zum Studium der Förderung der Slavischen Kulturen bei der UNESCO. Dort gründete er auch eine Filiale der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde. Und dort begann auch seine Beschäftigung mit dem russischen Schriftsteller und Dramatiker Anton Tschechow, die er bis zu seinem Lebensende weiterführen sollte. Den Anstoß dazu gab die Information von der Existenz des sogenannten „Tschechow-Archivs“, welches das Heilbad Badenweiler ab den 1950er Jahren über diesen Autor angelegt hatte und bis in die Gegenwart fortführt. Tschechow war 1904 in Badenweiler seiner langjährigen TBC-Erkrankung erlegen, schon 1908 hatten seine Verehrer aus dem Russischen Kaiserreich hier das weltweit erste Denkmal für ihn errichtet, das allerdings 1918 zerstört wurde. Kluge und seine damalige Mitarbeiterin Maria Deppermann begannen 1978, die bislang ungehobenen Archivschätze zu analysieren und zu kommentieren.
Auf dem Lehrstuhl in Tübingen
1982 wurde R.-D. Kluge auf den Lehrstuhl für Slavische Philologie (Literaturwissenschaft) an die Eberhard-Karls-Universität in Tübingen berufen. Aus Freiburg folgten ihm Heinz Setzer und Regine Nohejl als wissenschaftliche Mitarbeiter.
Zwei Jahre später wurde Kluge zu einer Gastprofessur an die McMaster-University im kanadischen Hamilton eingeladen. Nach seiner Rückkehr nach Tübingen begann eine Phase intensiver, innovativer akademischer Forschungsarbeit. Den Auftakt bildete 1985 der bis zum damaligen Zeitpunkt größte Kongress der deutschen Slavistik, das „Erste Internationale literaturwissenschaftliche Symposium ,Anton Tschechow – Werk und Wirkung‘“, welches im Oktober in Tschechows Sterbeort Badenweiler unter Teilnahme von über 100 Referenten aus 21 Ländern unter Kluges Leitung durchgeführt wurde.
Schon ein Jahr später, im Oktober 1986, folgte unter Kluges Leitung in Tübingen ein disziplinär weitgespannter Kongress mit Ausstellung und umfangreichem Kongressband zu dem slowenischen Reformator Primus Truber, der im 16. Jahrhundert in Tübingen die erste slowenische Katechismus- und Bibelübersetzung geleistet hatte, die ihn zum Schöpfer der slowenischen Schriftsprache und Literatur machte.
1987 wurde Kluge in Anerkennung seiner internationalen Vermittlungsleistung auf dem Ersten Badenweiler Tschechow-Kongress von der Heilongjiang-Universität in Charbin (China) zu deren Advisory-Professor ernannt. Es folgten Forschungsaufenthalte in den USA, in Kanada und vor allem in der Sowjetunion.
Kluge war Mitglied der staatlichen Lehrplankommission für das Schulfach Russisch in Baden-Württemberg. Nach der „Wende“ 1991 wirkte er aktiv an der „Aufbauhilfe Ost“ mit, um die Universitäten Jena und Leipzig sowie die Pädagogische Hochschule Dresden an westdeutsche akademische Strukturen anzupassen.
Wie sehr sich Kluges Forschungsinteresse auf außergewöhnliche, wenig bekannte Bereiche der slavischen Geschichte in Deutschland richtete, erwies in dieser Zeit eine Exkursion mit Studierenden ins slavische Wendland, um den kulturellen Relikten der Elbslaven nachzuspüren.
Aktivitäten in Badenweiler und im Ausland
Ein in seiner Außenwirkung kaum zu überschätzendes Ereignis wurde im Mai 1992 durch die Vermittlung Rolf-Dieter Kluges die Enthüllung eines neuen Tschechow-Denkmals in Badenweiler, ein Geschenk der Tschechow-Enthusiasten der fernöstlichen Insel Sachalin unter Leitung des dortigen Museumsleiters Georgi Miromanow. Tschechow hatte die ehemalige gefürchtete zaristische Gefängnisinsel bereits 1890 besucht und beschrieben. Im Gefolge der Perestroika sollte durch das neue Denkmal auch eine neue Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland begründet werden. Nach 74 Jahren gab es nun in Badenweiler wieder einen traditionellen Gedenkort für den mittlerweile zu einem der weltweit meistgespielten Dramatiker aufgestiegenen Anton Tschechow. Ein veritabler Tschechow-Tourismus setzte ein. Im Oktober 1994 folgte der Zweite Internationale Tschechow-Kongress in Badenweiler zum bislang vernachlässigten Thema „Religion und Philosophie bei Tschechow“. Nach dem Ende der atheistisch geprägten Sowjetunion stieß dieses Thema nunmehr auf großes Interesse. Zudem wurde erstmals das „Tschechow-Archiv“ der Öffentlichkeit vorgestellt.
1994 wurde Rolf-Dieter Kluge mit dem Amt des Vizepräsidenten der Universität Tübingen betraut, im selben Jahr erfolgte in Belgrad die Ernennung zum Ordentlichen Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften, 1995 wurde er zum Ehrenprofessor der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau ernannt.
Gemeinsame Projekte von deutschen Studierenden unter Leitung von Rolf-Dieter Kluge in Tübingen und russischen Studierenden unter Leitung von Prof. Dr. Wladimir Katajew (Präsident der Tschechow-Kommission der Russ. Akademie der Wissenschaften, ab 2009 Vizepräsident des Kuratoriums der Dt. Tschechow-Gesellschaft) an der Staatlichen Lomonossow-Universität (MGU) in Moskau wurden zu Glanzleistungen und Musterbeispielen des akademischen Kulturaustauschs. Das erste Projekt war dem Thema „Tschechow und Deutschland“ (1993 und 1994) gewidmet, das zweite, ebenso erfolgreiche, befasste sich mit „Richard Wagner in Russland“.
Ein für die deutsch-russischen transnationalen Literaturbeziehungen historisch wichtiges Projekt gelang 1996: Der Ankauf der „Russischen Bibliothek“ des über lange Zeit bedeutendsten deutschen Übersetzers aus dem Russischen, Johannes von Guenther, für die Universitätsbibliothek Tübingen. Von Guenther war bereits 1973 verstorben, seine berühmte Bibliothek drohte verloren zu gehen. Rund 2000 Bände konnten mit Hilfe des Landes Baden-Württemberg erworben werden, vor allem kostbare Ausgaben des russischen Symbolismus und russischer Klassiker.
Auch in Deutschland blieben Rolf-Dieter Kluges Bemühungen um den interkulturellen Austausch zwischen Ost und West nicht unbemerkt. Er wurde zum Senatspräsidenten der Universität Tübingen berufen, und 1998 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse als Kulturvermittler zwischen Ost und West ausgezeichnet.
Nun folgten erste Überlegungen zur Gründung eines vor allem Tschechow gewidmeten Museums in Badenweiler auf der Grundlage des dortigen Archivmaterials. Am 27.9.1996 unterzeichneten R.-D. Kluge, seine Mitarbeiter*innen R. Nohejl, H. Setzer, H. Willich sowie Ulrich Schmalz als Vertreter Badenweilers und Prof. Dr. W. Katajew aus Moskau ein erstes Gründungsdokument für das Museum, dessen Unterstützung aus Russland damit von Anfang an gesichert war. Im Juli 1998 wurde dann das von Heinz Setzer konzipierte Museum im Kurhaus Badenweiler feierlich eingeweiht. Sogar das berühmte „Moskauer Künstlertheater“, mit dem Tschechow als Dramatiker einst bekannt geworden war, gab zwei Mal ein exklusives Gastspiel in Badenweiler, wozu Kluges Kontakte nicht unwesentlich beigetragen hatten. Im Kurort begann nun, mit H. Setzer als Museumsleiter, eine höchst intensive Zeit der Tschechow-Erinnerungskultur, die bereits 2002 zur Kulturpartnerschaft zwischen dem Kurort im Schwarzwald, Tschechows Sterbeort, und Tschechows Heimatstadt Taganrog am Asowschen Meer, führte. Rolf-Dieter Kluge wurde im gleichen Jahr mit der Alexander-Puschkin-Medaille ausgezeichnet, der höchsten Anerkennung Russlands für Ausländer im Kulturbereich. Heinz Setzer und Badenweilers Bürgermeister Karl-Eugen Engler erhielten die Auszeichnung 2007.
2004 wurde, organisiert vom Literarischen Museum Badenweiler und Dr. Regine Nohejl sowie Dr. Heide Willich-Lederbogen, zum Dritten Tschechow-Kongress mit dem zentralen Thema „Tschechow als Dramatiker“ geladen, wiederum unter fachlicher Leitung Prof. Kluges. Die nach allen drei Symposien von Kluge, Katajew, Nohejl und Setzer publizierten Kongressbände sind zu unentbehrlichen Kompendien und Meilensteinen der internationalen Tschechow-Forschung geworden.
2009 wurde mit Sitz in Badenweiler die „Deutsche Tschechow-Gesellschaft e.V.“ gegründet, die nun zusammen mit dem Museum „Tschechow-Salon“ das internationale Netzwerk der Tschechow-Aktivitäten noch verstärken sollte. Rolf-Dieter Kluge wurde zum Gründungsvorsitzenden gewählt. Er selbst war in jenen Jahren allerdings nur zu wichtigen Veranstaltungen vor Ort, denn nach seiner Emeritierung in Tübingen 2002 hatte er – viel zu agil für den Ruhestand – eine Professur für russische Literatur- und Kulturwissenschaft in Warschau angenommen, die er zehn Jahre wahrnehmen sollte.
Rolf-Dieter Kluge hat es stets verstanden, seine universitären Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Michaela Fischer, Christa Marx, Regine Nohejl, Heinz Setzer, Heide Willich-Lederbogen) nachhaltig für die Slavistik zu begeistern und in eine große akademische ,Familie‘ zu integrieren. Anders wären wissenschaftliche Großprojekte und umfangreiche Publikationen kaum realisierbar gewesen. Zu seiner Emeritierung und zum 65. Geburtstag wurde Kluge von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch eine Festschrift mit 35 Beiträgen von Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt geehrt (Itinera Slavica. Studien zu Kultur und Literatur der Slaven, München: Sagner, 2002).
Zu seinem 80. Geburtstag 2017 wurde R.-D. Kluge zum „Ehrengast Badenweilers“ ernannt, seine ehemaligen Schüler*innen, Kolleg*innen und Freunde widmeten ihm ein bebildertes Erinnerungsbuch Ein Leben für den deutsch-slavischen Dialog der Kulturen (Hrsg. H. Setzer, R. Nohejl). Im Dezember 2019 legte Kluge sein Amt als Vorsitzender der DTG aus Altersgründen nieder, seine Nachfolgerin wurde die Vergleichende Literaturwissenschaftlerin und Romanistin Prof. Dr. Dorothea Scholl. Kluge selbst wurde zum Ehrenvorsitzenden gewählt.
Nun, vier Jahre später, ist seine gewichtige Stimme für immer verstummt. Seit den 1970er Jahren war er bestrebt, die Kenntnisse und das Verständnis der slavischen Kulturen, vor allem der geistigen und zivil- gesellschaftlichen Entwicklung Russlands, in breiter Perspektive zu fördern und zu vertiefen. Rolf-Dieter Kluge war bis zuletzt das Gesicht einer Epoche, die sich der Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern in Osteuropa und dem Bau von Brücken der Verständigung gewidmet hatte. Umso härter hatte ihn die Entwicklung der letzten beiden Jahre mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine getroffen, sah er doch, zumindest für die aktuelle Gegenwart, sein lebenslanges Engagement für Frieden und Zusammenarbeit in höchster Gefahr. Gewiss keine hoffnungsvolle Perspektive am Ende eines der deutsch-russischen Zusammenarbeit gewidmeten Lebens. Doch Rolf-Dieter Kluge hatte den Glauben an die Möglichkeit der interkulturellen Verständigung bis zum Ende allen widrigen Entwicklungen zum Trotz nicht aufgegeben. Für die deutsche Slavistik, für Badenweiler und für die DTG ist mit seinem Tod eine Ära zu Ende gegangen.
Heinz Setzer und Regine Nohejl