Prof. Dr. Dorothea Scholl
Vorsitzende der Deutschen Tschechow-Gesellschaft
Im Gedenken an Rolf-Dieter Kluge
Weißt du, was das ist – ein Talent?
Das ist ein Mensch, der Kühnheit und Schwung besitzt,
der frei in die Welt hinausblickt…
Anton Tschechow
Seit meiner Studienzeit hörte ich mit Begeisterung Rolf-Dieter Kluges temperamentvolle Vorlesungen an der Universität Tübingen. Ende November 1989 nahm er uns mit auf eine Exkursion nach Berlin, wo wir durch den Schnee stapften, unsere Hände durch die ersten Risse in der Berliner Mauer streckten, herausgebrochene Steine sammelten, und Aufführungen von Tschechows Möwe in der Inszenierung von Johannes Schaaf und dem Kirschgarten in der Inszenierung von Peter Stein erleben durften. Diejenigen, die dabei waren – Regine Nohejl, Heinz Setzer, Matthias Jacob und viele andere – erinnern sich gewiss an unsere abenteuerlichen Grenzübergänge und unsere vergebliche Suche nach etwas Ess- und Trinkbarem in den menschenverlassenen Straßen von Ostberlin. Wir diskutierten nicht nur mit den Schauspielern und mit Berliner Kollegen und Kommilitonen über Tschechow und über die aktuellen politischen Vorgänge, Rolf-Dieter rezitierte uns auswendig Gedichte – mit Vorliebe von Heinrich Heine – und erzählte uns von seiner Studienzeit in Berlin, zeigte uns das Studentenwohnheim, in dem er gewohnt und das er betreut hatte, und brachte uns zum Lachen mit seinem feinsinnigen Humor und seinen Erinnerungen an sein Studentenleben, das sich von dem unseren nicht allzu sehr unterschied.
Als er im März 1990 zum internationalen Kolloquium „Tchékhov et la France“ nach Paris fuhr, tauschten wir uns vor seiner Reise über die Gemeinsamkeiten und Gegensätze von Tschechow und Beckett aus – und er bat mich um eine Straßenkarte und sagte bei seiner Rückkehr mit verschmitztem Lächeln, er wundere sich, weil die sonst so vernünftigen Franzosen im Straßenverkehr solche Chaoten seien. Das führte zu einer lebhaften Diskussion über die Auffassungen vom Nationalcharakter der Franzosen, über die Entstehung und Überwindung von nationalen Vorurteilen und über Sinn und Perspektiven vergleichender Literaturwissenschaft.
Diskussionen mit Rolf-Dieter waren nie graue Theorie. Er füllte sie mit tiefen Gedanken und blühendem Leben aus dem reichen Schatz seiner persönlichen Erfahrungen und seiner Liebe zur Literatur. Gespräche mit ihm waren nie oberflächlich, nie anstrengend, nie gezwungen. Er nahm jeden ernst und ließ jeden so sein, wie er ist, und das war einfach wohltuend.
Er setzte auf Meinungsfreiheit, Toleranz, Verhandlung und Kompromiss. Es ging ihm immer um die Sache, und dafür setzte er sich leidenschaftlich ein. Er war eine mitreißende Persönlichkeit mit weitem Horizont, betrieb Wissenschaft in ihrer Menschen verbindenden Kraft und setzte seine Ideen entschlossen in die Tat um.
Sein Engagement und sein Enthusiasmus haben bewirkt, dass der Kurort Badenweiler im Schwarzwald, in dem Anton Tschechow die letzten Wochen seines Lebens verbracht hat, zu einem Tschechow-Sammelpunkt von internationaler Anziehungskraft wurde. Drei bedeutende Symposien fanden dort unter seiner Leitung mit Wissenschaftlern aus über zwanzig Ländern statt. Dort wurde 2009 die Deutsche Tschechow-Gesellschaft ins Leben gerufen, deren Vorsitzender er seit ihrer Gründung zehn Jahre lang war, und der er noch lange Zeit als Vorstandsmitglied und Ehrenvorsitzender verbunden blieb.
International hochgeschätzt als einer der besten Kenner der slavischen Literaturen und ihrer Geistesgeschichte, die er mit psychologischem und ästhetischem Feingefühl zu erschließen vermochte, verlor Rolf-Dieter nie den Blick auf die Regionalkultur.
Bei unseren Tschechow-Soirées in Badenweiler begeisterte er das Publikum in der Rolle des Njuchin in Tschechows dramatischem Monolog Über die Schädlichkeit des Tabaks, wie auch bei anderen szenischen Lesungen, bei denen wir uns immer köstlich amüsierten, weil er Tschechow so geistreich und kongenial rezitieren konnte, dass dessen versteckter Humor offen zutage trat.
Rolf-Dieter Kluge unterstützte mit Elan und Durchsetzungsvermögen die Tschechow-Gedenkpflege in Badenweiler, veranstaltete aufschlussreiche Führungen, schloss Freundschaft mit den dortigen Bürgermeistern und mit Ortsansässigen. Wir und andere Mitglieder und Gäste der DTG genossen die angenehme Gastfreundschaft von Heidi Eberhard und verbrachten bei ihr und ihrer Familie schöne Abende im Freien, bei einem guten Glas Markgräfler Wein oder Schwarzwälder Bier, Rolf-Dieter mit Zigarre und heiterer Gelassenheit, Inge mit erfrischender Schlagfertigkeit, und Hündchen Olga – die ihren Namen Rolf-Dieters erster Russischlehrerin verdankt – darauf bedacht, dass auch ja alle schön zusammenbleiben.
In ausgelassener Stimmung und bei heftigen Diskussionen ging es allerdings zuweilen so hoch her, dass sich Nachbarn über nächtliche Ruhestörung beschwerten!
Rolf-Dieter wirkte mäßigend auf unsere Diskussionen.
Sein fachliches und persönliches Anliegen der Kulturvermittlung konnte er auch der Allgemeinheit und Wissenschaftlern, die nicht vom Fach waren, nahebringen. Niemand konnte wie er komplizierteste Sachverhalte verständlich machen, niemand fand beim Publikum so großen Anklang wie er, und wenn ein Vortrag von ihm angekündigt war, wussten wir, dass der Saal voll sein werde.
Die Verbindung von regionaler, internationaler, interdisziplinärer und interkultureller Zusammenarbeit sah er als unerlässliche Bedingung und grenzüberschreitende Bereicherung für die Deutsche Tschechow-Gesellschaft, denn Tschechow ist ein Autor der Weltliteratur, der in der Welt gelesen und aufgeführt wird, weil er der Welt etwas zu sagen hat.
Der Tschechow-Forscher und Vizepräsident unseres Kuratoriums Prof. Dr. Wladimir Katajew würdigte Rolf-Dieter Kluge in seinem Nachruf und in seinen persönlichen Erinnerungen mit folgenden Worten:
„Für die russischen Tschechow-Forscher war er ein unermüdlicher Brückenbauer zwischen unseren Kulturen. […] In seinen Büchern und Vorlesungen erschien die russische Literatur in enger Verbindung mit den Literaturen anderer Länder und Völker, als Teil der Weltliteratur.“
Sämtliche Publikationen von Rolf-Dieter Kluge, von seinem frühesten Buch Westeuropa und Russland im Weltbild Aleksandr Bloks (1967) über seine zahlreichen Veröffentlichungen u.a. zu Puschkin, Turgenjew, Tschechow – dem er bereits in seiner Habilitationsschrift Vom kritischen zum sozialistischen Realismus (1973) ein großes Kapitel gewidmet hatte – bis hin zu seinem jüngsten Buch über Dostojewski (2021), bezeugen diesen weiten geistigen Horizont, der Grenzen öffnet, anstatt sie zu schließen.
Und er hatte mit staunenswerter Energie und Inspiration immer noch Pläne und Projekte, über die wir in der letzten Zeit seines Lebens gemeinsam unsere Gedanken austauschten.
Karl-Eugen Engler, der frühere Bürgermeister von Badenweiler, der Rolf-Dieter Kluge 2017 den Titel eines Ehrengasts verliehen hatte, würdigte ihn mit Worten, die ich hier wiedergeben möchte. Ich bin überzeugt, sie sprechen allen, die Rolf-Dieter verbunden sind, aus dem Herzen:
„Wie sehr habe ich Rolf-Dieters lebendiges Wesen, seine aufrichtige Persönlichkeit, seine Begeisterung für die Kultur und die schönen Künste vor Augen. Wie sehr habe ich den Verstorbenen geschätzt und gemocht und wie sehr war jede Begegnung mit ihm eine großartige, auch persönliche Bereicherung. Unvergessen seine Schilderungen, wie er mit meinem Vorgänger Dr. Bauert den Sockel des ersten Tschechow-Denkmals im Kurpark aufspürte; unvergessen seine zahlreichen Vorträge im Kurhaus, die internationalen Tschechow-Symposien, gemeinsame Reisen und vieles mehr. Es war immer wieder ein Hochgenuss, ihm zu begegnen, mit ihm Gespräche zu führen oder seinen Ausführungen folgen zu dürfen. Insoweit wird er bei denen, die ihn kannten, für immer im Gedächtnis und lebendig bleiben. Er hinterlässt Spuren nicht nur in seinem großartigen Engagement um die Slavistik und die russische Kultur, ja viel mehr noch, er hinterlässt Spuren in den Herzen der Menschen. Wir alle, gerade auch die Gemeinde Badenweiler, haben ihm sehr viel zu verdanken.“
Ich habe in der letzten Zeit Rolf-Dieters Briefe wieder gelesen, die er mir und unseren Mitgliedern aus Vorstand und Kuratorium geschrieben hat, nachdem er nicht mehr an unseren Sitzungen teilnehmen konnte. Trotz seiner Krankheit, trotz seiner Schmerzen und Leiden, wurde er nicht müde, aufrecht für seine tiefsten Überzeugungen einzustehen, mit einem geradezu heroischen Engagement. Mit tiefem Vertrauen in jeden einzelnen von uns und mit Besonnenheit, Einfühlungsvermögen, kritischer und klarer Distanz, beschenkte er uns mit seinem Wissen und seinen Lebenserfahrungen, und den Gedanken, die daraus erwuchsen. Er hoffte, dass die Tschechow-Gesellschaft als freie literarisch-kulturelle Zivilgesellschaft dem humanen Geist Anton Tschechows gerecht werde und einen Beitrag zur Verständigung leisten könne. Ich hoffe es mit ihm und für uns.
Wir verlieren mit Rolf-Dieter Kluge einen überragenden Wissenschaftler und einzigartigen Menschen, der unsere Gesellschaft – und unsere Herzen – wie kein anderer geprägt hat. Sein von warmer Menschlichkeit und geistiger Tiefe geprägtes Vermächtnis wird uns auch in Zukunft Orientierung geben.
Wir alle wissen, dass für Rolf-Dieter Harmonie ganz wesentlich war, Harmonie in der Musik, in der Kunst, in der Wissenschaft, und im Leben, und in diesem Sinne möchte ich uns allen persönliche Gedanken von ihm mit auf den Weg geben:
„Ich liebe die russische Literatur und Kultur schon lange, für mich ist das sozusagen die zweite geistige Heimat. Ich möchte diese große Kultur als gleichberechtigten Teilnehmer im vielstimmigen Konzert der europäischen Kulturen sehen. Sie bereichert das kulturelle Leben unseres Kontinents, wenn man so sagen kann, es ist ein großes Orchester, das aber jedes einzelne Instrument braucht, und jedes einzelne Instrument hat seine unersetzliche, unwiederholbare Stimme. Jede nationale Kultur hat ihre Spezifik, und sich mit den anderen verbindend, mit den anderen zusammenwirkend, erfüllt sie das universelle Konzert der Kultur unseres Kontinents.“
Dorothea Scholl