Ausstellungsrückschau „Taganrog

Der ältere Bruder von St. Petersburg“ und Badenweilers Kulturpartnerstadt

Heinz Setzer:

Fast 60 Farbfotografien der südrussischen Hafenstadt Taganrog, Heimat des Schriftstellers und Dramatikers Anton Tschechow und seit 2002 Kulturpartnerstadt waren in den letzten sechs Wochen im Rathaus Badenweiler zu sehen. Die zur „Internationalen Tschechow-Woche Badenweiler“ eröffnete Ausstellung bot eine visuelle Promenade mit Aufnahmen der Taganroger Kunstfotografin Ludmila Smetanko, des Leiters der Auslandsabteilung der dortigen Stadtverwaltung, Alexander Mirgorodski, und des Leiter des Tschechow-Museums Badenweiler, Heinz Setzer. Zumeist in großen Bildformaten konnte man Paläste, Denkmäler, Blickachsen und das Fluidum einer Stadt erleben, die zu den außergewöhnlichsten von ganz Russland zählt. Texttafeln gaben dabei Informationen zu Lebensart und Stadtgeschichte.

Rund 300 Gebäude vom 18. bis zum 20. Jahrhundert stehen heute in der Taganroger Altstadt unter Denkmalsschutz  – für russische Verhältnisse fast ein Wunder, denn normalerweise wurde zu sowjetischen Zeiten gerade das prächtige Erbe der Kaiserzeit und der Bourgeoisie dem Erdboden gleich gemacht. Zum Glück verschonten auch die Deutsche Wehrmacht und die SS, die Taganrog 1941 zum Hauptquartier für den Südostfrontnachschub erkoren hatten, das Stadtzentrum beim Rückzug. Bis zum Untergang der Sowjetunion vor 22 Jahren war die Stadt eine der größten Schwerindustriestädte Südrusslands, ein weiterer Glücksfall, dass die Plattenbauarchitektur erst hinter der Altstadt einsetzt. Heute gehört die Schwerindustrie weitgehend der Vergangenheit an, Taganrog sucht ein neues Image und findet es vor allem in seinen früheren Glanzbereichen: dem Handel und der Kultur. Die Hafenstadt am Asowschen Meer liegt fast genau auf dem Breitengrad Basels, rund 950 km südlich von Moskau, per Schiff gelangt man über das Schwarze Meer bis ins Mittelmeer.

Taganrog erhielt viele Ehrentiteln: „älteste Stadt Russlands“, „älterer Bruder von St. Petersburg“ und „Perle des russischen Südens“. Nun ist man dabei zu beweisen, dass dies keine billigen Werbegags sind. Neueste Grabungen – übrigens durch die Deutsche Archäologische Gesellschaft - haben bestätigt, dass die erste Besiedlung bereits durch die Griechen im 7. Jahrhundert v. Chr. erfolgte. Allerdings sollte die Stadt im 13. Jahrhundert dem Mongolensturm zum Opfer fallen.  Fast 500 Jahre kehrte Grabesruhe ein, während sich in der Zwischenzeit die Don-Kosaken im Hinterland niederließen. Erst der junge Zar Peter I., später der Große genannt, sollte die Auferstehung bewirken. 1695, kurz nach seiner Thronbesteigung, ließ er die türkische Grenzfestung Azow in der Nähe des heutigen Taganrogs belagern, dabei erlitt er eine arge Niederlage, die ihn aber lehrte, dass ohne eigene Flotte die Türken nicht zu schlagen waren. Im zweiten Anlauf, vom Meer aus mit der aus dem Boden gestampften ersten russischen Flotte gelang Peter der Sieg über den Sultan. Dies war die Geburtsstunde Taganrogs, das zum ersten Seehandelshafen, zum ersten Kriegsmarinehafen und zur stärkstes Festung im Süden des Reiches wurde, - vom Zar persönlich am 12.9.1698 nach dessen Westeuropatrip eingeweiht. Somit ist Taganrog sieben Jahre älter als die zweite Stadtgründung St. Petersburg. Dieser Gründungstag wird seit Jahren als ausgelassenes Bürgerfest gefeiert – übrigens mit gloriosem Festakt vor dem mächtigen Bronzedenkmal Zar Peters, das über die Vermittlung Tschechows in Paris gegossen wurde. Taganrog expandierte damals rasch, doch 1711 kam eine neue Katastrophe: Peter musste nach einer erfolgreichen Attacke der Türken einen schmählichen Frieden schließen, die Festung schleifen und die Stadt aufgeben. Erst 58 Jahre später unter der deutschstämmigen Kaiserin Katharina der Großen begann die eigentliche Blüte der Stadt als Booming Town mit Neubürgern und Investoren aus ganz Süd- und Westeuropa, mit Seehandel und Schmuggel, mit internationalem Flair und klassischen Baustilen.  Noch heute ähnelt das auf dem Reißbrett geplante Straßennetz der Fächerstadt Karlsruhe. Mit Palästen, Banken, Handelshäusern und Kirchen vom Barockstil über den Neoklassizismus bis zum Jugendstil wurde Taganrog zur „Perle des russischen Südens“, die sich zudem mit vielen südrussischen Erstgründungen wie etwa dem Theater, dem Orchester, dem Gymnasium, der Bibliothek und dem Stadtpark zum kulturellen Zentrum Südrusslands mauserte. Deutsche hatten dabei einen gewichtigen Anteil. Die politische Rolle als Gouvernementshauptstadt musste man allerdings 1868 an die aufstrebende Handelsrivalin Rostow-am-Don abtreten.

Bis ins Großherzogtum Baden reicht die historische Rolle der Taganrogs: 1825 kam Kaiser Alexander I., der Sieger über Napoleon und Schwiegersohn des Großherzogs Karl Friedrich, mit seiner Gattin Jelizaweta Alexejewna, geborene Prinzessin Luise von Baden, nach Taganrog, um kurz danach zu sterben. Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, sein Tod sei fingiert gewesen, um ihm, dem frommen Gründer der „Hl. Allianz“, ein abgeschiedenes Leben in einem sibirischen Kloster zu ermöglichen. Das denkmalverliebte Taganrog besitzt natürlich auch für diesen Kaiser ein monumentales Standbild – gut platziert vor der Staatsbank. Doch der Taganroger liebstes Kind ist unzweifelhaft Tschechow – nicht nur drei Museen und die vielen Denkmäler, die voller Humor sogar seinen literarischen Helden gewidmet wurden, beweisen dies, sondern auch die jährliche opulente öffentliche Geburtstagsfeier am 29. Januar. Trübe Zeiten herrschten allerdings zur Sowjetzeit, als das quirlige Taganrog 1923 aus strategischen Gründen „geschlossene Stadt“ wurde und vor allem im Ausland dem Vergessen anheimfiel. Doch seit der russischen Wende ist man mit Effet dabei, die verlorene Rolle als wirtschaftliche und kulturelle Drehscheibe internationalen Zuschnitts wieder zu erlangen, Badenweiler kann stolz auf diese Partnerstadt sein.