Badenweiler in „Europa-Mitte“.

Deutsch-französische Veranstaltungswoche

anlässlich des 130. Geburtstags von René Schickele und des 50-jährigen Jubiläums des Elysee-Vertrags.

Ohne Rückblick auf unsere Vergangenheit wären Gegenwart und Zukunft wie in einer Black Box isoliert und ohne Basis, es sind vor allem Gedenk- und Literaturveranstaltungen, die hier ein Dialogfenster nach außen öffnen. Gerade Badenweiler mit seiner eigenen großen Literaturgeschichte besitzt eine lange Tradition kultureller Identitätsbildung weit über regionale Grenzen hinaus.

Letzte Woche standen deswegen das Elsass und Frankreich im Mittelpunkt des 15. Internationalen Literaturforums, der  Veranstaltungsplattform des Literarischen Museums, wobei das René Schickele-Zitat von „Europa-Mitte“ als Motto diente. Zählt doch das Heilbad zu denjenigen Städten in Deutschland, welche die Aussöhnung mit dem ehemaligen „Erbfeind“ Frankreich am frühesten und intensivsten gesucht haben.

Am 4. August vor 130 Jahren war der deutschsprachige Schriftsteller, Dramatiker und Journalist René Schickele im damals deutsch-elsässischen Oberehnheim, dem heutigen Obernai, als Kind einer  französischsprachigen Mutter und eines elsässischen Vaters in die nationale Zerrissenheit unserer linksrheinischen Nachbarn hineingeboren worden. Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte Schickele mit dem Antikriegsdrama „Hans im Schnakenloch“ das Elsass als Achse für den Frieden zwischen den beiden Ländern herausgehoben. Von 1922 an hatte Schickele dann für zehn fruchtbare Schriftstellerjahre in Badenweiler eine neue Heimat gefunden. Von hier sei es ebenso weit nach Marseille wie nach Berlin, Avignon oder München – eine Leuchtturmlage mitten in Europa. Hier entstanden seine literarischen Hauptwerke, von hier aus stritt er für europäischen Frieden und Kultur. 

In seiner großen Romantrilogie „Ein Erbe am Rhein“ (1923-1926) legt er seinem elsässischen Helden Claus von Breuschheim folgende Rede in den Mund:

„Wie wärs, Ihr Narren, wenn ihr euch zum Besseren kehrtet und unser Land und die Kammern eures Herzens zum Unterpfand eurer Freundschaft machtet, wenn ihr erklärtet: das Land zwischen Schwarzwald und Vogesen ist der gemeinsame Garten, worin deutscher und französischer Geist ungehindert verkehren, sich einer am anderen prüfen und die gemeinsamen Werke errichten kann, die neuen Denkmäler Europas – dies ist der ewige Tempel unseres ewigen Friedens?“

Voller Zweifel aber endet dieser flammende Appell für eine gemeinsame Heimat Europa mit einem Fragezeichen. Nicht ohne Grund, denn 1940 fand Schickele im Exil im südfranzösischen Vence auf der Flucht vor den Nazis den Tod.

Doch schon gleich nach Kriegsende regte sein hiesiger Freund, der Maler Emil Bizer, die Gründung einer „Schickele-Gesellschaft“ an, 1947 wurde bereits ein „Schickele-Brunnen“ eingeweiht (jetzige Form von 1983). 1956 wurde Schickeles Grab in sein geliebtes Badenweiler überführt - ein Signal grenzüberschreitender Aussöhnung. Und gleich ein Jahr später wurde unter dem ehemaligen Bürgermeister Dr. Friedrich von Sieboldt mit der lothringischen Thermalwasserstadt Vittel eine der ersten deutsch-französischen Städtepartnerschaften  überhaupt geschlossen. Letzte Woche reichten sich viele Badenweilerer Bürger in Vittel erneut die Hände mit ihren Städtepartnern.

Schickele, der über das Elsass noch geschrieben hatte: „Hier schlägt das Herz Europas am unruhigsten … und auch am schmerzhaftesten“, hatte von Deutschland und Frankreich gefordert: „gemeinsamer Untergang oder gemeinsamer Neubau, (…) gemeinsame Übernahme der Führung in Europa aus dem Chaos in die Ordnung.“

Heute scheint Schickeles Vision weitgehend Realität geworden, so dass es nahe lag, mit der Einladung zweier bekannter Elsässer Schriftsteller und Publizisten, Pierre Kretz aus Straßburg (18.9.13) und Martin Graff aus Munster (20.9.13), der aktuellen Beziehungslage wenige Tage vor der Bundestagswahl den Puls zu fühlen. Beide stöbern in „schonungsloser Freundschaft“ (Zitat Graff) in der gemeinsamen tragischen Geschichte, aber sie bürsten auch hemmungslos heutige Elsass-Klischees gegen den Strich und sind engagierte Verteidiger der Zweisprachigkeit, des „Elsässer Ditsch“. Dialektkostproben führten in Badenweiler zu begeisterter Publikumsresonanz.

Kretz,1950 in Séléstat geboren und bis 2000 als Jurist tätig, las aus seinen Romanen „ „Ich, der Kleine Katholik“ sowie aus „Der Seelenhüter“. Besaß die allumfassende katholische Vereinnahmung in den 1950er Jahren durch den naiven Blickwinkel des kleinen Pierre, des „Sünders“, vor allem einen humorvoll, fast exotischen Blick – etwa die katholische Weihe des neuen (protestantischen) Peugeot der Familie, so gewährte der „Seelenhüter“ ein den Atem verschlagender Tiefblick in die vergessenen Schicksale der „Malgré nous“, jener Elsässer Soldaten, die bis 1940 noch die französische Uniform trugen und kurz danach für das Deutsche Reich in Russland kämpfen und sterben mussten. Der Ich-Erzähler möchte die Opfer Jahrzehnte später dem Vergessen entreißen, sein Absturz in die Psychose war dabei unausweichlich.

Martin Graff, der 1940 geborene protestantische Theologe, Philosoph Romanist, bekennender „Grenzvagabund“, funktionierte seine Soirée fast vollständig zum tolldreisten Kabarettvortrag mit Lesespuren aus seinem letzten Buch „Leben wie Gott in Frankreich“ um: Ein spannendes,  satirisches Schlaggewitter mit politischen Unterschleifen, das nebenbei den elsässischen Identitätswandel der letzten Generationen offenlegte. Hier nur ein Aspekt: Hätten er und Klassenkameraden in der Ecole maternelle Munsters noch ausschließlich Elsässer Ditsch gesprochen, so gäbe es heute in der gleichen Schule niemand mehr, der Alemannisch verstehe. Das Naziregime hätte den Dialekt so diskreditiert, dass die Jugend sich nicht nur davon, sondern auch vom Deutschen abgewendet habe. Hoffnung gäben allerdings neuerdings die vielen deutsch-französischen Mischehen, die ihre Kinder zweisprachig aufwachsen lassen und so eine neue Partnerschaftsbrücke über den Rhein schaffen.

Kretz und Graff hatten dem zahlreichen Publikum als authentische Stimmen des Elsass neben viel Heiterem vor allem unerwartete Erkenntnisse und Einsichten vermittelt, die einen anderen Blick auf unsere Nachbarn erlauben sollten.

Eine Kulturwoche zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, die auch zukünftig Maßstäbe setzen sollte.

 Heinz Setzer