Die Magie der hölzernen Puppen

Zum Gastspiel des Moskauer Obraszow-Puppentheaters in Badenweiler

Das Obraszow-Puppen- Theater inszenierte drei phantastische Erzählungen des Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez anlässlich von dessen 85. Geburtstag. Hier: „Alter Senor mit Mädchen“

Es war eine Lehrstunde im Staunen, was das Staatliche Akademische Zentrale Obraszow-Theater aus Moskau mit seinem exklusiven Gastspiel im 15. Internationalen Literaturforum Badenweiler mit dem Stück „Ein sehr alter Mann mit großen Flügeln“ am 24. und 25. Mai geboten hatte.

Als Hommage zum 85. Geburtstag des kolumbianischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez hatte das Moskauer Theater seine aktuellste Inszenierung mitgebracht, die mit ihrer ausgefeilten Ästhetik und raffinierten Lichtkunst den lebensgroßen Holzpuppen einen magischen Odem des Lebens einzublasen schien.

Es war die deutschsprachige Uraufführung dieser drei Márquez-Erzählungen aufgreifenden Inszenierung. Das Kulturministerium der Russischen Föderation hatte sie Badenweiler im Rahmen des Jahres der Begegnung „Deutschland in Russland - Russland in Deutschland“ für dessen Tschechow-Gedenkpflege und Engagement im deutsch-russischen Kulturdialog zum Geschenk gemacht.

Schon alleine die Figur des „sehr alten Mannes“ in der ersten Erzählung bildete eine staunenswerte künstlerische Plastik. Als gestürzter Engel mit großen zerzausten Flügeln wird der „alte Mann“  wie ein Monster hinter Gitter gesperrt und verspottet. Erst als ein kleines Mädchen voller Mitleid Essen bringt, gewinnt der Engel seine Kraft zurück, er schnitzt dem Mädchen Puppen, die sie glücklich machen, bevor er sein Gefängnis in einen Garten verwandelt und entschwindet. Ein Märchen, das ohne ein einziges gesprochenes Wort auskommt.

Die zweite Erzählung “Die schönste Wasserleiche der Welt“ hatte es direkt auf hypnotische Wirkung abgesehen, wie später im Interview Assistenzregisseur Dmitri Tschernow bestätigte. Mitten im unendlichen Schwarz der Guckkastenbühne sitzt eine alte pfeifenqualmende Dame am Tisch und erzählt aus ihrem Leben: Wie sie den „schönsten Mann der Welt“ als Wasserleiche findet, sich zur Beerdigung das ganze armselige Dorf  zu dessen Verwandtschaft erklärt, womit soziale Harmonie und Wohlstand dort einkehrt, wo früher nur Elend herrschte. Viel Humor ist im Spiel, auch sprachlich. Die Sprache der Alten klingt nur scheinbar Spanisch, real ist es unverständlicher Kauderwelsch, der auch in der russischen Aufführung einen Dolmetscher benötigt. Für die deutsche Aufführung war der Moskauer Stardolmetscher Valeri Kusawljow  mitgekommen.

Die dritte Episode „Nabu, ein Schwarzer, der die Engel warten lässt“ war ein Paradestück dynamischer Puppenspielkunst. Nabu steppt zu einer Jazzschallplatte und striegelt dabei die Pferde, bis er von ihnen getreten wird und in ein langes Koma fällt. Ein herbeigeeilter Engel möchte ihn in den Engelschor entführen, doch Nabu weigert sich lange, seinen Zustand zu verlassen. Als er endlich zustimmt, geschieht ein Wunder: Seine lahme Freundin wirft die Krücken weg, versucht zaghaft zu steppen, und… es gelingt.

Dem Erzählstil von Márquez, der phantastische mit realistischen Elementen verbindet, kam dieser Genresprung auf die Welt der Puppenbühne in idealer Weise entgegen. Ist doch dieses im Gegensatz zum  „normalen“ Theater mit seinen menschlichen Schauspielern, welche Handlungsrollen alleine durch ihre mimische und emotionale Präsenz verkörpern, auf die Verwandlung toter Materie in überzeugende Lebensillusionen durch eine künstlerische Gesamtinszenierung angewiesen.

Anders als beim Marionettentheater werden die großen und schweren Puppen nicht mit Fäden, sondern direkt durch die Hände der Puppenspieler bewegt. Bis zu fünf Personen können so die Mechanik einer einzelnen Puppe steuern, wobei die schwarz gekleideten Spieler selbst nie ins Scheinwerferlicht geraten dürfen, obgleich deren Hände nicht immer verborgen bleiben. Die Anforderungen an die Bewegungskoordination der Puppenspieler sind dabei extrem, balanciert wird auf der Grenzlinie von totaler visueller Illusion und deren Bruch. Zudem wird beim Obraszow-Theater meist eine synästhetische Gesamtwirkung angestrebt, bei der Márquez-Inszenierung war es vor allem der fast stets präsente Saxophonvirtuose Ivan Dyma. Vor allem aber hing das Theater von der „poetischen Visionskraft“ des Regisseurs und dessen Talent zur Verwirklichung ab. Der in Badenweiler anwesende Regisseur Viktor Nikonenko, der sich auch als bildender Künstler einen Namen geschaffen hat, hatte hier Großartiges geleistet und die Tradition des Theatergründers Sergej Obraszow weiter geführt. Zum Premierenende bedankte sich das Theater mit einem besonderen Geschenk: Bürgermeister Karl-Eugen Engler, Literaturforumsleiter Heinz Setzer und Veranstaltungsleiterin Angelika Lesniak erhielten jeder den „alten Mann“ als vom Puppenkünstler geschaffene Kleinplastik – wie Theaterdirektorin Irina Kortschewnikowa betonte, als Schutzengel für die zukünftigen gemeinsamen Projekte.

Auch an den Theatergründer, den Schauspieler, Schriftsteller und Theatertheoretiker Sergej Obraszow war an diesem Abend erinnert worden. Ihm war es vor 82 Jahren mit der Gründung des Theaters gelungen, das Figurentheater auf die Ebene des klassischen Staatstheaters anzuheben,  eine eigenständige Ästhetik zu entwickeln und zudem eine berühmte Schauspielschule einzurichten, die bis zum Untergang der Sowjetunion 1991 als Theaterakademie existierte. Bis heute ist der Titel „akademisch“ erhalten geblieben. Nicht nur durch die Finanzierung aus dem föderalen Staatsbudget steht das Obraszow-Theater in einer Reihe mit dem Moskauer Bolschoj Theater oder der Tretjakow-Galerie, es ist seine künstlerische Qualität und Innovationskraft, die es auf diesem Niveau halten. Wie populär dieses Theater noch heute in Russland ist, zeigen die Aufführungszahlen: jeden Tag wird gespielt, samstags und sonntags werden auf beiden Bühnen sogar vier Aufführungen geboten! Nicht minder bedeutsam ist das Theatermuseum, welches mit über 7000 Puppen die weltweit größte derartige Sammlung besitzt und zusammen mit der gleichfalls international umfassendsten Fachbibliothek zur Puppenspielkunst auch kulturgeschichtlich einmalig ist. Übrigens besitzt das Theatergebäude auch als einziges Theater ganz Russlands ein Figuren-Glockenspiel, das täglich die Betrachter in Bann zieht. Offensichtlich muss man sich um die Zukunft dieses Theaters keine Sorgen machen.

Dass Badenweiler nun zum wiederholten Male großzügig vom russischen Staat mit einem exklusiven Gastspiel  aus Moskau bedacht wurde, ist der Anerkennung seiner intensiven Gedenkkultur für den guten russischen Geist des Heilbads, Anton Tschechow, geschuldet. Doch darüber hinaus ist es der jetzigen Direktorin des Obraszow-Theaters Irina Kortschewnikowa zu danken, die erstmals vor 14 Jahren als administrative Leiterin des Moskauer Künstlertheaters nach Badenweiler kam, sich in den Kurort und seine Literaturtraditionen verliebte und ihm bis heute die Stange hielt. Sie hat gleich nach dem jetzigen Gastspiel ihre Erinnerungen an Badenweiler verfasst.

Irina Kortschewnikowa: Erinnerungen an Badenweiler

[Original auf Russisch, Ü.: H. Setzer]

Das erste Mal kam ich im Mai 1999 nach Badenweiler, als wir mit dem Moskauer Akademischen Tschechow-Künstlertheater ein Gastspiel durchführten. Wir zeigten das „Konzert für Tschechow“, bei dem die besten Schauspieler des Theaters teilnahmen. Leider konnte Oleg Nikolajewitsch Jefremow nicht dabei sein, der damalige künstlerische Leiter des Theaters, der davon träumte, die Stadt zu besuchen, die mit dem Namen seines geliebten Autors verbunden war. Die Ärzte hatten Oleg Nikolajewitsch die Flugreise verboten. Ein Jahr vor unserem ersten Besuch in Badenweiler war der frühere Bürgermeister der Stadt, Herr R[udolf] Bauert, nach Moskau gekommen, er besuchte Oleg Nikolajewitsch, welcher mich zu diesen Gespräch hinzuzog, im Theater. Es ging um die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen dem Künstlertheater und Badenweiler. Oleg Nikolajewitsch begann die Idee zu nähren, diese Stadt zu besuchen. Für ihn war wichtig, überall dort gewesen zu sein, wo auch Tschechow gewesen war – in Melichowo, in Taganrog, auf Sachalin. Das Künstlertheater pflegte jedes Jahr in Jalta [auf der Krim / Ukraine] aufzutreten, und jetzt bot sich die Möglichkeit, die Kunst des Theaters in der Stadt zu zeigen, die der Ort des letzten Atemzugs dieses großen Autors der Weltliteratur geworden war.

Die Stadt begeisterte uns, wir waren bezaubert von ihrer Schönheit, ihrer Ruhe, und insbesondere von der tiefen Verehrung für Tschechow, die wir hier spürten. Was uns erstaunte, war, dass das erste Denkmal für diesen Autor hier im Jahr 1908 errichtet worden war. Mehrfach schon haben in Badenweiler Literaturkongresse stattgefunden, der erste im Jahr 1985, jährlich werden literarische und musikalische Veranstaltungen durchgeführt, die Einwohner Badenweilers und der umliegenden Städte haben die Möglichkeit, sich mit neuen Künstlern, mit Museen und Kinofilmen bekannt zu machen. Im Jahr 2004, zum hundertsten Todesjahr A. P. Tschechows, setzte in Badenweiler ein Veranstaltungsmarathon ein: vom Mai bis zum Oktober 2004 gab es Ausstellungen, Filmvorführungen, Theateraufführungen, musikalische Meisterkurse, das Schauspiel „Die Möwe“ durch das Moskauer Akademische Künstlertheater, einen Literaturkongress, der über hundert Tschechow-Experten aus der ganzen Welt zusammen führte. Am 15. Juli war die feierliche Einweihung des Tschechow-Platzes. Vertreter aus  Moskau, Taganrog, Sachalin und Jekaterinburg waren dabei. Eine riesige Zuschauermenge, unvergesslich! Und überall Heinz Setzer –Tschechowforscher, einer der Gründer des Tschechow-Archivs in Badenweiler und Leiter des Literarischen Museums „Tschechow-Salon“. Und neben ihm – Karl-Eugen Engler – der Bürgermeister der Stadt, der für die vielen Veranstaltungen Planungsfreiheit gewährt hatte. Später wurden diese beiden Personen mit der „Tschechow-Medaille“ ausgezeichnet, die anlässlich des Jubiläums zum 150. Geburtstags A. P. Tschechows geschaffen worden war.

Nach diesem ersten Besuch in Badenweiler war mir klar geworden, dass diese Stadt ins Leben eines jeden eingetreten war, der sie auch nur einmal besucht hatte.

Danach brachte ich eine Ausstellung des Museums des Moskauer Akademischen Künstlertheaters in den Kurort, es folgten das Moskauer Ermitage-Theater und das Staatliche Akademische Zentrale Obraszow-Puppentheater.

Jedes Gastspiel in Badenweiler ist wie ein Luftholen, das dem Schauspiel neuen Atem verleiht. So auch bei unserer letzten Anreise, als wir das Schauspiel nach G[abriel]. G[arcía] Márquez „Ein sehr alter Herr mit großen Flügeln“  aufführten [24. und 25.5.2013].

Das Puppentheater bewirkt die Illusion, als ob auf der Welt alles möglich sei. Und das ist auch so – hier kann eine besondere Theaterwelt geschaffen werden mit Höhenflügen und Abstürzen, mit plötzlichem Verschwinden und unglaublichen Erscheinungen. Das heutige Puppentheater ist vielgestaltig. Sogar die Schauspielhäuser führen neben ihrem Personal oft auch Puppen ein, die neben den Schauspielern die Irrealität oder Wirklichkeit dessen verkörpern sollen, was den Schauspielern zu tun unmöglich ist. Die Puppe schreibt sich so in das Leben der lebenden Schauspieler ein und steht ihm in keinem Fall entgegen, sondern fügt sich im Gegensatz organisch in den Aufbau des Geschehens ein.

Heinz Setzer