Festival für einen Skeptiker – die Internationale Tschechow-Woche 2013

109 Jahre nach seinem Tod luden Internationales Literaturforum Badenweiler und Deutsche Tschechow-Gesellschaft vom 15.- 21.7.2013 mit Unterstützung vieler Institutionen zur „Internationalen Tschechow-Woche Badenweiler“. Zu einem Festival für einen Schriftsteller und Dramatiker, der selbst von sich glaubte, nach wenigen Jahren vergessen zu sein, aber heute noch die Welt bewegt. Aus Taganrog und  Moskau, Wien, Straßburg und deutschen Regionen reisten die Protagonisten nach Badenweiler  – und läuteten damit auch das Ende des Kulturjahres „Deutschland in Russland – Russland in Deutschland 2012/13“ ein.

Der Programmstart mit dem von  Pfr. a. D. Rolf Langendörfer geführten Spaziergang zu den Tschechow-Gedenkstätten fiel dabei direkt auf den  Sterbetag des Schriftstellers am Montag, dem 15.7., womit auch ein kaum bekanntes Tschechow-Jubiläum seinen Hype bekam. War doch termingenau 50 Jahre zuvor der  „Tschechow-Stein“ am Schwanenweiher von den damaligen  Amtsträgern, dem Botschaftsrat der Sowjetunion Smidowitsch aus Bonn und dem Badenweilerer Bürgermeister Dr. Rudolf Bauert, feierlich eingeweiht worden. Dabei steht bis heute die Bescheidenheit des Gedenksteines in keinem Verhältnis zu seiner historischen Bedeutung: Seine Enthüllung war 1963 die  zaghafte, aber erste deutsch-russische gemeinsame Kulturunternehmung nach der heißesten Phase des Kalten Krieges, nach Berliner Mauerbau und  Cuba-Krise.

Die Brüder Koneffke – ein synästhetischer Höhenflug

Ihren Fortgang nahm die Festwoche wegen der Anreise des russischen Theaterensembles erst am übernächsten Tag mit der exklusiven Lesesoirée „Eine nie vergessene Geschichte“ (Dumont-Verlag, 2008) mit dem Schriftsteller Jan Koneffke aus Wien und Bukarest sowie dem Konzertpianisten Ulrich Koneffke aus Mainz, ein hinreißendes literarisch-musikalisches Hörerlebnis, das mehr Gäste verdient hätte. Ermöglicht wurde es durch die Kooperation von Internationalem Literaturforum und Deutscher Tschechow-Gesellschaft mit dem „Deutschen Kulturforum östliches Europa“ mit Sitz in Potsdam, einer Institution, die im Auftrag des Auswärtigen Amtes die verbindende  gemeinsame Geschichte Deutschlands und Osteuropas wiederentdeckt und pflegt. Extra zur Würdigung dieser Zusammenarbeit war Forums-Präsident Winfried Smaczny  mit weiteren Mitgliedern angereist. Der mehrfach mit hohen Literaturpreisen ausgezeichnete Schriftsteller Jan Koneffke ist diesjähriger Träger des Usedomer Literaturpreises des Landes Mecklenburg-Vorpommern. In Badenweiler machte er der Einschätzung des bekannten Literaturkritikers Hellmuth Karasek, der  ihn als „eine der aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur“ gewürdigt hatte, alle Ehre. Seine Generationen übergreifende Saga über die der pommerschen Ostseeküste entstammende Familie Kannmacher, deren Schicksale vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebbar wurden, hielt alle Anwesenden in Bann.  Und Jan Koneffkes Bruder, Ulrich, Pianist des bekannten Grüneberg-Trios und Professor an der Mainzer Musikakademie, bot ein sich parallel zum Romangeschehen dramatisch steigerndes Klavierkonzert. Von der Bachschen g-Moll Fuge und zwei Chopin-Walzern ausgehend, über Debussys L’isle joyeuse, Robert Schumanns Clara Wiek-Variationen und Brahms cis-Moll Capriccio steuerte der Virtuose auf Schostakowitschs grandioses Präludium und die es-Moll Fuge op. 87 zu, das die Wucht des Krieges spürbar machte.

Taganrog – mehr als nur die ehemalige Perle Südrusslands

Am Donnerstag kam dann Tschechows südrussische Heimatstadt Taganrog zu ihrem Recht. Museums- und Literaturforumsleiter Heinz Setzer bot unter dem Titel „Taganrog - der ältere Bruder von St. Petersburg und die ehemalige Perle des russischen Südens“ einen verbalen und fotografischen Höhenflug über Historie und Straßen dieser Stadt, die zu den außergewöhnlichsten Russlands zählt und seit elf Jahren Kulturpartnerstadt Badenweilers ist. Sieben Jahre vor St. Petersburg persönlich von Zar Peter dem Großen 1698 als erster Seehafen Russlands begründet, besitzt die Stadt ihre diversen Ehrennamen durchaus zu Recht, denn in ihrer Altstadt haben sich Architektur, Kultur und Landschaft vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mit für Südrussland einmaligen Beispielen fast vollständig erhalten. Was unter  80 Jahren kommunistischer Herrschaft und dem Ausbau zum Schwerindustriezentrum nach dem Krieg verkam, wird nun mit viel Sorgfalt und Anstrengungen restauriert, zumal nach der  russischen Wende 1991 die „Eisenzeit“ weitgehend unterging und wieder Kultur und Handel gefragt sind.

Die Vernissage einer bis zum 30.8.2013 geöffneten Ausstellung über Stadt und Landschaft im Rathausfoyer mit rund 60 Farbfotografien der Taganroger Fotokünstlerin Ljudmila Smetanka und von Alexander Mirgorodski, dem Leiter der Taganroger Auslandsabteilung, sowie von Heinz Setzer  beendeten den Taganroger Ehrentag.

Die Tschechow-Bühne als Laboratorium

Dann, am 19.7., ein organisatorischer Doppelzug: Jahreshauptversammlung der Deutschen Tschechow-Gesellschaft e. V. und gleich danach im Kurhaustheater das erste von zwei exklusiven Gastspielen des International Chekhov Lab aus Moskau (Internationales Tschechow-Experimentaltheater) unter Leitung von Prof. Viktor Goultchenko. Als Teil des „Tschechow-Instituts“ gehört es zum „Staatlichen Zentralen Obraszow-Theatermuseum“. Mit diesem größten Theatermuseum der RF arbeitet Badenweiler seit drei Jahren eng zusammen. Möglich geworden war dieser - auch finanzielle - Klimmzug mit Anreise des ganzen Ensembles durch die Unterstützung der Gemeinde, der Arbeitsstelle des Landes für Literarische Museen in Marbach, der Dt. Tschechow-Gesellschaft, des „Walter Scheel-Forums – für deutsch-russische Zusammenarbeit“ und nicht zuletzt des Bachruschin-Museums selbst. Die erste, den russischen Nationalcharakter aufs Korn nehmende Inszenierung von „Der Typus des russischen Unglücksraben“ (nach der Tschechow-Erzählung „Auf dem Weg“, 1886) erwies sich nicht nur vom Inhalt her höchst aufschlussreich, sondern auch hinsichtlich des Verständnisses für deutsche Zuschauer als ein Experiment, wurde doch die Übersetzung per Laufbandtext eingeblendet.

„Onkel Wanja“ – ein moderner Tschechow, der unter die Haut ging

Dramatischer Höhepunkt der Woche war unzweifelhaft  „Onkel Wanja“ am Samstag. Hier kamen nicht nur die zahlreichen russischsprachigen, sondern auch die deutschen Zuschauer durch die bessere Projektionstechnik zu ihrem Theatergenuss. Zwar musste man stetig mitlesen, doch Tschechow ist für die Sprechpausen seines Dramenpersonals berühmt und die zum Teil landesweit renommierten Schauspieler, die Regisseur Goultchenko aus mehreren Theatern Moskaus für dieses Stück handverlesen hatte, brillierten in ihren Rollen. Und zudem: Wo kann man sich synchron in den originalen russischen Wortklang einhören? Eine Erfahrung der Extraklasse, die zwar Konzentration erforderte, sich aber durch die moderne Fragestellung nach der Sinnhaftigkeit des Lebens und das schauspielerische Können besonders lohnte.

Die „Panichida“ – Requiem für einen Skeptiker

Am späten Sonntagnachmittag fand mit einem geistig-geistlichen Sprung in die russisch-orthodoxe Liturgie das Tschechow-Festival sein Ende. In der  katholischen Marienkapelle, in der Tschechow 1904 nach seinem Tod aufgebahrt worden war, zeigten sich die Früchte der über die Dt. Tschechow-Gesellschaft erwachsenen Kontakte zur großen russisch-orthodoxen Gemeinde in Straßburg. Vater Daniel (Escleine), Priester und Rektor der dortigen Kirchengemeinde, zelebrierte  die Panichida zum Totengedenken Tschechows. Beileibe bedeutete dies nicht, den aufklärerisch-skeptischen Tschechow in die Kirche „heimzuholen“, was auch Museumsleiter Setzer in einem Vortrag über das komplizierte Verhältnis Tschechows zur Religion verdeutlichte. Dennoch, die musikalischen Traditionen der Kirche, Gesang und Konzerte, hatte der Schriftsteller, der mit Tschajkowski gut befreundet war, immer ohne Einschränkung geliebt und auch seine persönlichen Statements zur Religion sind alles andere als eindeutig. Deshalb war es auch keineswegs ein Sakrileg, die Feier mit einem  Violinkonzert der Städtischen Musikschule Offenburg-Ortenau  durch deren Schüler Ernst Mohr und Hagen Rießland ausklingen zu lassen, obwohl die orthodoxe Kirche eigentlich nur die menschliche Stimme als Kirchenmusik zulässt.

Eine Woche war zu Ende, vollgepackt mit starken Erlebnissen, spannenden Begegnungen und Gesprächen über kulturelle, gesellschaftliche und geografische Grenzen hinweg. Der internationale Kulturdialog, der durch die Tschechow-Traditionen Badenweilers in Gang gekommen ist, gehört sicher zu den besten Entwicklungen, die das Heilbad aus seiner langen Geschichte heraus hat destillieren können.

Heinz Setzer