Klagen über verpasste Gelegenheiten

Das Drama "Onkel Wanja", das während der Tschechow-Woche in Badenweiler aufgeführt wird, kommt beim Publikum gut an.

Ensemble des Tschechow-Experimentaltheaters Moskau. Mitte: der künstlerische Leiter Prof. Viktor Goultchenko, und Heinz Setzer, Museumsleiter  u. Stv. Vorsitzender DTG.

Russisches Theater war angesagt im Kurhaus von Badenweiler gegen Ende der Tschechow-Woche. Am Samstag wurde das Drama "Onkel Wanja" geboten. Und es kam gut an wie Reaktionen aus dem Publikum zeigten.

Experimentaltheater war angekündigt worden. Die Bühne im Kurhaus, auf der das Moskauer Tshechov Lab auftreten wird, wirkt konventionell. Tisch, Stühle, eine spanische Wand – ein russisches Wohnzimmer auf dem Lande ist angedeutet. Aparte Details setzen Akzente: die Kuckucksuhr, der Samowar, die Tischdecke mit Weltkarte. Mit einfachen Mitteln versetzen die Schauspieler das Publikum in das ländliche Russland aus der Zeit vor gut 100 Jahren.
 Der Klang der russischen Sprache fasziniert, die detailgetreue Übersetzung, die als Bildschirmtext oberhalb der Bühne zum Vorauslesen erscheint, ebenfalls. "Schraub den Wasserhahn zu, alter Waffelkuchen", wird etwa der treue Hausgehilfe Teljagin ermahnt, wenn er wieder einmal zu viel redet. Dabei liegt stets, wie beim Hofnarren, viel Wahrheit in dem, was er sagt.
 Ihre Verwandtschaft ist für die Personen, die in diesem abgeschiedenen Landhof miteinander leben, zum Schicksal geworden. Die Ankunft des in die Jahre gekommenen Professors, den die Verwandtschaft aus der Ferne immer bewundert und finanziell unterstützt hat, lässt die im Haus schon seit langem schwärenden Frustrationen offen zu Tage treten. Seine junge Frau, die sich an der Seite eines Gelehrten jedenfalls ein glamouröseres Leben vorgestellt hatte, bringt Wanja, den Bruder seiner verstorbenen ersten Frau, in Wallung. Er schmeißt sich ihr an den Hals und hadert mit sich, ihr nicht einen Antrag gemacht zu haben, als sie 17 war und er 37. Jetzt scheint alles zu spät. "Sie sind ein Quälgeist", muss er sich von ihr sagen lassen, die in Wirklichkeit schon ein Auge auf den Arzt (Astrow) geworfen hat, der regelmäßig auf dem Gut seine Aufwartung macht. Sonja, des Professors Tochter, die jahrelang mit ihrem Onkel Wanja aufopferungsvoll die Gutsgeschäfte geführt hat, liebt den Arzt ebenfalls. Ganz Idealist, hat er sich die Erhaltung der russischen Wälder zum Wohle des Volkes zur Aufgabe gemacht. Er arbeitet Tag und Nacht, seine Gefühle sind ihm unterdessen aber abhanden gekommen, wie er bei einem intensiven Gespräch mit Sonja feststellt.
 Beim Publikum, das sich an diesem heißen Sommerabend im Kurhaus eingefunden hat, kommt das Stück bestens an. Drei ehemalige Russischlehrerinnen von der Waldorfschule freuen sich über die Gelegenheit, wieder einmal ein russisches Stück zu sehen und vor allem zu hören. Fröhlich stoßen sie auf diese wunderbare Gelegenheit an. Aber auch Besucher, die nicht russisch sprechen, kommen auf ihre Kosten. Eine Frau aus Badenweiler erklärt, sie liebe alles Russische. An Tschechows Stück gefällt ihr die Aktualität: "Das könnte man eins zu eins auf heute übertragen", sagt sie, "das Klagen über verpasste Gelegenheiten – hören Sie sich mal heutige Vierzigjährige an."
 Tschechows Kosmos als universale Botschaft, das ist ganz im Sinne von Badenweilers Kulturbeauftragtem Heinz Setzer, der von ganzem Herzen hofft, dass die Moskauer Truppe hier gefällt. Er verrät, dass die Requisiten auf der Bühne aus der mit der Tschechow-Gesellschaft verbundenen Privathaushalten stammen. "Einen ganzen Laster für das Bühnenbild zu mieten, das hätten wir uns nicht leisten können", lacht er.

Badische Zeitung