Badenweiler als literarischer „Global Player“. Zum Google-Tschechow-Lesemarathon

Badenweiler als literarischer „Global Player“. Zum Google-Tschechow-Lesemarathon

Heinz Setzer:

Badenweiler als literarischer „Global Player“. Zum Google-Tschechow-Lesemarathon

Fast schien für das Badenweilerer Literaturmuseum die Teilnahme am weltweiten Tschechow-Lesemarathon „Tschechow lebt“ noch kurz vor seinem Start am 25.9. das Ende gekommen. Galt doch die LAN-Geschwindigkeit des Rathaus-Internets als nicht ausreichend für ein Sendeprojekt über Google-Youtube, das drei Kontinente (Europa, Asien, USA) über 24 Stunden live verbinden sollte. Zumal es völlig im Dunkel geblieben war, wie es das Museum hätte managen sollen, bei 702 (!) Lesenden weltweit die eigenen 15 Leser sekundengenau in den Sendefluss einzuklinken.

Doch Google.com, die Sendezentrale, hatte diese Schwierigkeiten noch rechtzeitig erkannt und am 24.9. mit Fjodor und Kostja ein zweiköpfiges Web-Expertenteam samt Studioausrüstung aus Moskau nach Badenweiler geschickt – man konnte also mit den „Großen“ wie London, New York, Hongkong, Moskau und St. Petersburg Schritt halten.  Aber auch dann gab es noch Aufregung: war allen Teilnehmern klar geworden, dass die zugeteilten Sendetermine die Moskauer Zeit darstellten und deshalb die Zeitverschiebung abzuziehen war? Doch jeder der 15 Lesenden, die von Theatern in Badenweiler, Karlsruhe und Basel, Russischsprechern der Dt.-russ. Kulturgesellschaft Lörrach, der Dt. Tschechow-Gesellschaft, der Uni Freiburg und der Waldorfschule Müllheim ehrenamtlich mitwirkten, hatte sich zeitlich richtig informiert.

Insgesamt besaß das Projekt eine globale Vernetzungskomplexität, die dem Begriff „world wide web“ wahrhaftig zur Ehre gereichte: Waren doch die Lesetexte in 60 kleine Segmente zerschnitten worden, um dann unabhängig vom Ort und lesender Person in der Moskauer Zentrale über 24 Std. hinweg wieder nahtlos zusammengefügt und ins Netz geschickt zu werden. So konnte etwa eine erste Seite in Badenweiler, die nächste in New York oder Wladiwostok gelesen werden – ein faszinierendes Puzzlespiel, bei dem Vortragsstil und Ausdruck, Redegeschwindigkeit, Geschlecht der Vortragenden und Orte ständig wechselten, der Text aber fortlaufend richtig gesprochen wurde.  Orte der Teilnahme waren z. B. (genau hierzu siehe die offizielle Website: http://chekhov.withgoogle.com/)  Moskau, St. Petersburg, Taganrog, Jekaterinburg, Melichovo, Novosibirsk, Sachalin, London, New York, Hongkong und Badenweiler. Unser Operator Kostja saß deshalb mit Kopfhörer vor Monitoren, Kamera und Rooter, um nach Moskauer Signal den sekundengenauen Leseeinsatz zu geben, der leider stets von der Vorplanung abwich. So ging Badenweiler am 25.9. um 17.10 Ortszeit, aber mit über einer Stunde Verspätung, das erste Mal „in den Äther“ („v efir“), wie die russische Bezeichnung für auf Sendung gehen lautet, um Tschechows frühe Erzählung „Verspätete Blumen“ auf Russisch zu lesen. Es dauerte drei Stunden, bis die sechs Lesenden (Heinz Setzer, Steffi Lunau, Jana Wenzel, Elena Sebold, Darja Becker, Elisabeth Hartmann) mit ihrer ersten Sektion „durch“ waren. Danach hatte Badenweiler drei Stunden Pause, die nachfolgende Sektion mit der Lesung des Romans „Die Steppe“ (Regine Nohejl, Natascha Kostenok, Konstantin Rapp, Oksana Klingberg)  und des „Dialogs der Dramenmonologe“ (auf Deutsch: Martin Lunz, Dan Wiener) zog sich dann bis nach Mitternacht hin. Die dritte und letzte russische Lesesession (Lilja Fogelsang, Elena Kalistratova) mit der Erzählung „Die Braut“  war dann am Samstag kurz nach 12 Uhr mittags zu Ende. Warum in Deutschland während der live-Sendung die Internet-Seite gesperrt worden war, blieb unbekannt. Natürlich kann man über Youtube den ganzen Marathon jederzeit abspielen.

In toto ein technisch ambitioniertes, literarisch anspruchsvolles und ästhetisches Projekt, das weltumspannend nicht nur den Begriff Weltliteratur auf faszinierende Weise erlebbar macht, sondern auch ein Zeichen für friedliche Kommunikation  setzt und die humane, wertbildende Rolle der Literatur über nationale Grenzen hinweg praktiziert. Dennoch sei auch ein Vorschlag erlaubt: Wenn außerhalb Russlands gelesen wird, könnte die jeweils länderspezifische Sprache stärker hervorgehoben werden, bei uns also mehr deutsche Übersetzungen, um  auch deutschsprachige Leser stärker einzubinden.

Dass nach geglücktem Abschluss die beiden Operatoren noch eine Filmdokumentation von Tschechows Badenweiler drehten, war noch ein unvorhergesehenes Schmankerl für das Heilbad.