Tschechows Reise in die Hölle und ins Paradies.

Eröffnung der deutsch-russischen Ausstellung

„Tschechows Reise auf die Insel Sachalin“

v.l. Heinz Setzer, Dr. Thomas Schmid, Prof. Dmitri Bak, Bürgermeister Karl-Eugen Engler, Anastasia Alexandrowa, Sergej Maguta, Rolf-Dieter Kluge, Prof. Jürgen Brodwolf

Heinz Setzer:

Tschechows Reise in die Hölle und ins Paradies.

Eröffnung der deutsch-russischen Ausstellung

„Tschechows Reise auf die Insel Sachalin“

Bis auf den Flur drängten sich am 17.1.2015 die Besucher, als im Großherzoglichen Palais Badenweiler die Ausstellung über das größte Abenteuer des russischen Schriftstellers Anton Tschechow, seine Reise auf die ehemalige Sträflingsinsel Sachalin, eröffnet wurde.

Anlässlich des 125-jährigen Reisejubiläums konnten sich das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das Literarische Museum  Badenweiler „Tschechow-Salon“ und die Deutsche Tschechow-Gesellschaft die Ehre teilen, dieses zum nationalen Kulturgut Russlands zählende originale Bildmaterial zeigen zu dürfen. Das Staatliche Literaturmuseum der Russischen Föderation in Moskau hatte es erstmals für eine öffentliche Präsentation frei gegeben, ermöglicht durch einen jahrelangen vertrauensvollen Dialog beider deutscher Institutionen mit Moskau. Nach Marbach und Badenweiler werden die Fotos in Moskau und auf Sachalin zu sehen sein.

Die 56 kommentierten s/w-Fotografien im Badenweilerer Palais sind kulturgeschichtliche Paradestücke. Ergänzt wird die Präsentation durch das „Glasbuch“  zu  Tschechows Sachalinreise des bekannten Künstlers der Stuttgarter Kunstakademie, Prof. Jürgen Brodwolf, sodann durch Dokumente zu den Sachalin-Kontakten Badenweilers sowie durch einen von Anastasia Alexandrowa vom russischen Literaturmuseum für diese Ausstellung gedrehten Dokumentarfilm über Tschechows Reise.

Bürgermeister Karl-Eugen Engler formulierte bei seiner Begrüßung, die Ausstellung möge belegen, dass Kultur und Literatur  eine funktionierende Hoffnungsbrücke beider Länder sein  könnten, auch wenn andere Brücken schon brüchig oder gar eingestürzt erscheinen. 

13 Wochen war Tschechow damals von Moskau aus unterwegs, davon alleine über 5000 km auf Pferdewagen durch die endlose Tajga und durch Wälder, über Schnee, durch Flüsse und Sümpfe, den Rest der 11.000 km per Dampfer und Eisenbahn, um auf eine karge Insel zu gelangen, die noch  „hinter Sibirien“, im „fernen Osten“ Russlands liegt. Erst 1875 war Sachalin vollständig in russischen Besitz gekommen, nachdem die Japaner die Insel im Austausch mit den Kurilen verlassen hatten. Sachalin wurde das östlichste Zentrum der „Katorga“, des Straflagerregimes, das zumeist keine Rückkehr nach Europa erlaubte.

Russland befand sich seit Ende der 1880er Jahre in einer Zeit des Umbruchs, wie Prof. Rolf-Dieter Kluge, Vorsitzender der Deutschen Tschechow-Gesellschaft, und  Prof. Dmitri Bak, Direktor des Staatlichen Literaturmuseums der Russischen Föderation in Moskau, ausführten. Die Zeit der gesellschaftlichen Reformen war vorbei, das autokratische Zarenreich zog die juristischen Schrauben an und schickte Tausende in die Zuchthäuser und Strafkolonien Sachalins.

Tschechow selbst, als 30-jähriger Arzt mit seiner bisherigen Wirkungsmöglichkeit als Schriftsteller unzufrieden,  brach auf, um der Gesellschaft über den unmenschlichen Strafvollzug der „Hölle Sachalin“ die Augen zu öffnen – eine abenteuerliche Weltreise mit radikal aufklärerischem Potential, – die kein Einziger in seinem Umfeld Tschechow zugetraut oder auch nur für sinnvoll gehalten hatte.

Ohne offiziellen staatlichen Auftrag führte er auf der Insel eine Volkszählung durch, erfasste in drei Monaten rund 10.000 männliche wie weibliche Zuchthäusler und Strafkolonisten, alle, bis auf die „Politischen“, zu denen man ihm den Zugang verweigerte.

Als er ab Oktober über den Indischen Ozean, durch den Suez-Kanal, das Mittelmeer und das Schwarze Meer zurückreiste, erlebte er unter den Palmen der Insel Ceylon das Gegenstück zu Sachalin. Mit Eindrücken gesättigt schrieb er an einen Freund: „Ich kann sagen:  ich habe gelebt! Mir reicht es. Ich war in der Hölle, auf Sachalin, und im Paradies, das heißt auf der Insel Ceylon.“

Tschechows mit fast enzyklopädischem Anspruch 1895 publiziertes Buch „Die Insel Sachalin“ sollte die russische Gesellschaft erschüttern, noch heute prägt es die Identität der Inselbewohner. 1902 schrieb ein Kritiker „Hätte Tschechow nichts mehr geschrieben als dieses Buch, so wäre sein Name dennoch auf ewig in die Geschichte der russischen Literatur eingeschrieben und würde nie in der Geschichte der russischen Verbannung vergessen werden.“ Tschechow nahm darin kein Blatt vor den Mund:  „Die Strafen, die über Zuchthäusler und Kolonisten verhängt werden, zeichnen sich durch äußerste Strenge aus […].  Strafen, die den Verbrecher erniedrigen, ihn zur Grausamkeit erziehen und zur sittlichen Verrohung beitragen und deren Schädlichkeit schon längst für die freie Bevölkerung erwiesen ist.“ Einer Folter gleich kam etwa die Strafe des Ankettens an eine schwere Schubkarre, wobei die Ketten weder tags noch nachts gelöst wurden.

Badenweiler verbindet diese Ausstellung aber auch noch mit einem weiteren, in Deutschland einmaligen Jubiläum, das unmittelbar eine Brücke über 13.000 km nach Sachalin schlägt!

1990, vor 25 Jahren,  schenkten die Tschechow-Enthusiasten der Insel dem Sterbeort Tschechows das jetzige neue Tschechow-Denkmal am Burgberg, das allerdings wegen des Zusammenbruchs der Sowjetunion erst 1992 verspätet eingeweiht wurde.  Diese neue Sachaliner Bronzebüste sollte der Ersatz für das weltweit erste Tschechow-Denkmals sein, das 1908, gleichfalls als russisches Geschenk an das „badische Volk“ (!) nach Badenweiler gelangt war, dann aber vor Ende des Ersten Weltkriegs eingeschmolzen wurde. Nun erhielt die neue Büste eine Doppelfunktion: Neben dem Denkmal für Tschechow sollte es „Symbol der Perestrojka und  für das friedliche Zusammenleben von West- und Osteuropa“ sein, wie der Sachaliner Museumsdirektor Georgi Miromanow, Initiator der Schenkungsaktion, vor einem Vierteljahrhundert  betonte.

Natürlich lieferten Tschechows Reiseambitionen ebenso wie das Vermächtnis  des Donators – Miromanow starb auf dem Rückweg nach Sachalin tragischerweise gerade in der Ukraine – den Rednern gewichtige Stichworte.

Dr. Thomas Schmidt, Leiter der Arbeitsstelle für die Literarischen Museen in Baden-Württemberg in Marbach, stellte in seinem Grußwort nicht nur den Ausstellungskatalog vor, er ging auch auf die Rolle Badenweilers ein: Zwar habe Tschechow bis zu seinem Tod nur wenige Wochen im Kurort gelebt, doch aufgrund der zweitausendjährigen Tradition der Märtyrer besäßen Sterbeorte grundsätzliche Bedeutung für jegliches Gedenken, Badenweiler erfülle diese Aufgabe in hervorragender Weise.

Und der aus Berlin angereiste Erste Botschaftsrat und Kulturattaché der russischen Botschaft, Sergej Maguta, würdigte nicht nur die Reise, die der „Heldentat eines Entdeckers“ gleichgekommen sei, sondern auch die herausragende Bedeutung der jetzigen Ausstellung. Dank des von beiden Ländern anerkannten Genies Tschechows könne dieser deutsch-russische Kulturdialog das gegenseitige Verstehen „auch bei Unwetter“ fördern.

Altbürgermeister Dr. Rudolf Bauert, der bislang als einziger Vertreter Badenweilers 1995 die Insel anlässlich des 100-jährigen Buchjubiläums besuchte, gab mit einem Bildvortrag seine Sachalin-Impressionen von der tiefen Tschechow-Verehrung zur Sowjetzeit wieder.

Die Vernissage endete mit einem synästhetischen Konzert des Moskauer Musikers  Anton Silajew, der mit Trompete, Percussion und elektronisch gesteuerten Bildprojektionen eindrucksvoll das moderne Russland vertrat.

Die Ausstellung im „Kunstpalais Badenweiler“ ist noch bis zum 15. Februar 2015 zu folgenden Zeiten geöffnet: Do – Sa 14-17, So 11-17Uhr, Eintritt 2 €, Schüler/Studierende frei, Katalogpreis 7,50 €.

Am 30.1.2015, 19.30 Uhr, lädt die Dt. Tschechow-Gesellschaft ins Kunstpalais zu ihrer traditionellen Tschechow-Geburtstagssoiree mit einem Vortrag von Prof. Dr. Rolf-Dieter Kluge zum Thema „Frauen auf der Sträflingsinsel“ sowie mit Lesungen aus Tschechows Sachalinberichten.