Authentische Lebenserinnerung eines Zeitzeugen. L. L. Rabenek: Die letzten Minuten A.P. Čechovs in Badenweiler

Übersetzung von Heinz Setzer aus dem Russischen

Obwohl die Biografie Anton Čechovs bis in die Details mehrmals beschrieben wurde, ist im 100. Todesjahr des Schriftstellers der glückliche Fall eingetreten,  dass eine bedeutende schriftliche Erinnerung an Čechov wieder aufgefunden wurde,  welche bisher noch nicht ins allgemeine Blickfeld der Čechov-Rezeption geraten war und nun gerade zum 100. Todesjahr des russischen Schriftstellers dessen letzte Lebensstunden in Badenweiler aus einem neuen Blickwinkel  beleuchtet.

Der nachfolgende Bericht des jungen russischen Studenten Leo L.  Rabenek, der als einziger Zeitzeuge neben Ol’ga Leonardovna Knipper-Čechova und dem behandelnden Großherzoglichen Badearzt Dr. Josef Schwoerer bei Čechovs Tod  zugegen war, ist vor einem halben Jahrhundert, am 06.09.1954,  zum 50. Todestag des Schriftstellers, abgeschlossen worden, also aus großem historischen Abstand.

Dennoch werden hierin  bisher kaum bekannte Einzelheiten zu den letzten Lebenstagen Čechovs und seinem Tod beschrieben,  Ereignisse, über welche wir nur aus der ebenfalls von subjektivem Erleben geprägten Perspektive von Čechovs Witwe O. Knipper-Čechova  wissen.

Dr. Schwoerer selbst hat keine Erinnerungen außer einem medizinischen Bericht an die „Russkie vedomosti“ (1904, Nr. 184; Russische Annalen)  zu Čechov hinterlassen, so dass Rabenek neben Ol’ga Knipper-Čechova als einzige erhaltene authentische Quelle zu Čechovs Tod anzusehen ist.

Alle anderen Erinnerungen, wie etwa die des russischen Journalisten Grigorij Borisovič Iollos, beruhen auf nach dem Tod Čechovs gemachten Mitteilungen dieser drei anwesenden Personen.

 Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass den jungen Rabenek das Erlebnis von Čechovs Tod zeitlebens prägte und ihm die Umstände genau im Gedächtnis blieben.

Rabeneks Erinnerungen sind auch ein Dokument  jener Zeit, als Badenweiler dabei war, den Ruf eines TBC-Heilortes zu überwinden und sich mit aller Kraft auf die balneologischen Heilmethoden mit Thermalwasser  zu konzentrieren, wobei blutspuckende TBC-Kranke oder gar daran Verstorbene kaum dieser Entwicklung förderlich waren.

Mir [H. Setzer] wurden die Erinnerungen Rabeneks erstmals in der maschinenschriftlichen Übersetzung des englischen Čechov-Kenners und Übersetzers Harvey Pitcher durch Vermittlung des BBC-Korrespondenten Julian Evans aus London bekannt, der vom 11.-12. 05. 2004 in Badenweiler Material für eine große Reportage über den Tod Čechovs Informationen sammelte.

Über ihn gelang es auch, den Kontakt zu dem Großneffen Leo Rabeneks, Andrew Rabeneck, in London herzustellen, welcher mir die Erlaubnis erteilte, die Lebenserinnerung seines Großonkels ins Deutsche zu übertragen. Grundlage des Textes war nicht die englische Übersetzung, an welcher eine große englische Zeitung zum 100. Todesjahr die Rechte hält, sondern die russische Originalfassung, welche 1958 in der russischen Emigrantenzeitschrift in Paris  „Vosroždenie/La Renaissance. Literaturno-političeskie tetradi“ (Die Wiedergeburt/Die Renaissance. Literarisch-politische Hefte), Heft 84, Dezember 1958, S. 28-35, publiziert wurde und von mir für die Čechov-Jubiläumsausgabe des „Badenweiler Journals“,erstmals ins Deutsche übertragen wurde. (Diese meine Erstpublikation in Dudentranskription., Badenweiler Journal Nr. 8; 5.-18.7.2004, weist  unwesentliche Kürzungen auf).

Dieser Text Rabeneks klärt zudem, dass die Urheberschaft zu dem einzigen in Badenweiler von Čechov bekannten Foto, das ihn als bereits Verstorbenen im Sterbezimmer des ehemaligen Hotels Sommer zeigt, Leo Rabenek und dessen Bruder zukommt.

H. Setzer

Die Erinnerungen von Leo Rabenek:

 Die  letzten Minuten Čechovs.

Indem ich die Niederschrift meiner Erinnerungen beginne, die mit dem Tode Čechovs verbunden sind, möchte ich erklären, dass ich, nach dem Willen des Schicksals, der einzige Zeuge seines Dahinscheidens war. Außer mir und der Gattin des verstorbenen Schriftstellers, Ol’ga Leonardovna, die bekannte Schauspielerin des Moskauer Künstlertheaters, und dem ebenfalls bei Čechovs Tod anwesenden deutschen Arzt Dr. Schwoerer, der vor kurzem verstorben ist, war niemand mehr bei diesem niederdrückenden und traurigen Ereignis zugegen.

Und ich fühle, es ist wie eine Verpflichtung:  diese Erinnerungen mit meinen Landsleuten zu teilen sowie mit all jenen, welche Erinnerungen an unseren talentierten Schriftsteller besitzen, welche ihn lieben und ihn und sein Werk schätzen.

Anton Pavlovič Čechov verstarb, wie  bekannt am 2./15. [Datum jeweils nach dem russisch julianischen Kalender/ nach dem gregorianischen Kalender] Juli 1904 in Badenweiler, einem kleinem Sommerkurort des Schwarzwaldes, im Süden Deutschlands.

Dorthin kam ich mit meinem Bruder völlig zufällig und unerwartet. In jener Zeit waren wir Studenten der Moskauer Universität. Nachdem wir Ende Mai unsere Prüfungen abgelegt hatten und glücklich zu den Folgekursen überwechseln konnten, waren wir nach dem Willen unserer Mutter, welche sehr um unsere Bildung bemüht war, zur Universität  Neufchâtel abgereist, um im Laufe des Sommersemesters dort einen Kurs zur französischen Literatur zu besuchen.

Aber als wir in Berlin angekommen waren, erkrankte mein Bruder und der herbeigerufene deutsche Arzt diagnostizierte bei ihm eine schwere allgemeine Erschöpfung und riet ihm und ebenfalls mir, nicht unsere Sommerstudien in der Schweiz fortzusetzen, sondern die Ferien auszunutzen und uns ausgiebig zu entspannen und Kräfte für das zukünftige Wintersemester in Moskau zu sammeln. Der Doktor riet von Berlin nach Badenweiler zu fahren, in den fichtenbestandenen Schwarzwald zur Behandlung bei dem gleichen Dr. Schwoerer, welcher in dieser Zeit auch Čechov behandelte.

Als wir in Badenweiler ankamen, waren wir völlig zufällig im Hotel Sommer abgestiegen, in dem auch die Čechovs lebten.

Als wir in Moskau abgereist waren, wussten wir wie viele andere, dass Anton Pavlovič und Ol’ga Leonardovna ins Ausland gefahren waren, aber wohin sie gefahren waren, war uns unbekannt – deswegen waren wir angenehm überrascht, als wir am folgenden Morgen nach unserer Ankunft im Speisesaal mit Ol’ga Leonardovna zusammentrafen (Anton Pavlovič kam zum Morgenkaffee nicht herunter) und erfuhren, dass die Čechovs sich hier befanden und im gleichen Hotel wie wir auch wohnten.

Nachdem wir mit Ol’ga Leonardovna geplaudert und ihr die letzten Moskauer Neuigkeiten erzählt hatten, gingen wir auseinander, nachdem sie uns zu sich eingeladen hatte, damit wir auch Anton Pavlovič berichten könnten, der sich im Ausland nach Russland und den russischen Menschen sehnte.

Es ist noch notwendig zu erwähnen, dass wir Ol’ga Leonardovna, fast wie auch die ganze Familie Knipper, noch aus Moskau sehr gut kannten und auch dem Moskauer Künstlertheater dank unserer engen Freundschaft mit der Familie Alekseev  nahe standen, zu der auch Konstantin Sergeevič Alekseev – mit dem Künstlernamen Stanislavskij zählte.

Ich erinnere mich, als wir sommers häufig nach Ljubimovka ritten, in das nahe Moskau gelegene Gut der Alekseevs, wie wir dort die Zeit verbrachten, manchmal wochenlang mit unseren Altersgenossen, den Neffen Stanislavskis, lebten, wie wir dort Anton Pavlovič trafen, der 1902 im alten Anwesen der Alekseevs den Sommer verbrachte und ihn häufig sahen, als er im Schlapphut, mit dem Gehstock in der Hand und dem unvermeidlichen  Pincenez auf der Nase im nahe gelegenen Birkenwäldchen spazieren ging.

Wischnewski, der Schauspieler am Moskauer Künstlertheater war, hielt uns dann an, indem er mahnte: “Ihr stört Anton Pavlovič, er ist gekommen, um für unser Theater ein neues Stück zu entwerfen!“ Dieses Stück war der „Kirschgarten“, der dann mit solch riesigem Erfolg im Künstlertheater im Januar 1904 aufgeführt wurde. Nach dem Ende der erste Aufführung hatte das Theater Čechov geehrt, aber im Frühling, nach Beginn der Sommerferien des Theaters, waren Anton Pavlovič und seine Gattin ins Ausland nach Badenweiler gefahren, um sich „auszukurieren“, von wo es ihm allerdings nicht mehr bestimmt war, lebend in die Heimat zurückzukehren.

Indem ich mich jetzt an die weit zurückliegende Vergangenheit erinnere, entsteht vor mir die Erinnerung an das kleine gastfreundliche, an den sanften Schwarzwaldhängen gelegene Badenweiler und an das Hotel Sommer, das mit seiner Fassade auf den wunderbaren Park Badenweilers blickte.

Ich erinnere mich, der Sommer 1904 war sonnig und sehr heiß, in allem fühlte man Zufriedenheit, Ruhe und Freude.

Anton Pavlovič war bis zu unserer Ankunft noch nicht lange in Badenweiler gewesen, aber nach dem äußeren Eindruck schien es, als ob es ihm sehr gut gefiel und, wie mir später in Moskau Wišnevskij, dem Čechov aus Badenweiler in den Kaukasus geschrieben hatte, berichtete und bestätigte: - „als ob die Gesundheit nach Pud gemessen zu  ihn kam“.

Aber diese Gesundung war nur scheinbar, der Prozess seiner Krankheit ging weiterhin seinen Weg. Als ich am Tage nach unserer Ankunft ging, um Anton Pavlovič zu besuchen, überraschte mich der Unterschied zwischen dieser scheinbaren Gesundung und der Erschöpfung seiner ganzen Gestalt, obwohl die Farbe seines Gesichts sehr gut und stark gerötet wirkte.

Als wir zusammen saßen bemerkte ich, dass er häufig stark hustete und Flüssigkeit in eine kleine blaue, sich selbst schließende Spuckdose ausspie, die er bei sich in der Tasche seiner Jacke trug. Diese vernünftige Vorsicht, die Anton Pavlovič im Umgang mit anderen einnahm, hatte dazu geführt, dass die Direktion des ersten Hotels, in dem die Čechovs, als sie nach Badenweiler kamen, abgestiegen waren, es für notwendig hielten, ihm die Gastfreundschaft aufzukündigen, indem man meinte, dass die Anwesenheit eines so schwer Erkrankten in ihrem Hotel die anderen gekommenen Gäste vertreiben könne.

Danach waren sie ins Hotel Sommer umgezogen und hatten ein Zimmer genommen, das zur Hauptstrasse Badenweilers hinausging, und das durchaus laut und unruhig war.

Anton Pavlovič erregte sich darin und wollte aus ihm unbedingt ausziehen. Aber die Kursaison war in vollem Schwange, so dass man warten musste, bis ein anderes bequemeres und stilleres Zimmer freigeworden war. Endlich ergab sich dieser Fall – es wurde ein großes, wunderbares Zimmer mit Balkon und mit Blick auf den schattigen Park Badenweilers frei. Dorthin siedelten die Čechovs um.

Ich erinnere mich an die Freude Anton Pavlovičs, als ich zu ihm in dieses neue Zimmer kam. Er hatte sich sofort beruhigt und war fröhlich geworden.

Schon nach dem Tod Čechovs, als ich mich mit Ol’ga Leonardovna danach an alles Geschehene erinnerte, sagte sie mir: - „Erinnern Sie sich, wie mich Anton drängte ihn in ein anderes Zimmer umzusiedeln, erinnern Sie sich, wie er sich aufregte, als wie ein Mensch vor dem Tode sich beeilt, seine letzte irdische Behausung aufzusuchen...“

Ich ging fast täglich zu Anton Pavlovič, brachte ihm russische Zeitungen, teilweise las ich sie ihm laut vor. Er interessierte sich schrecklich für alle Ereignisse im Fernen Osten. Der Krieg mit Japan erregte ihn, und unsere Mißerfolge an der Front verärgerten ihn sehr und er litt mit seiner Seele daran.

Es schien damals, dass niemand das nahe Ende vorausahnte: er machte Pläne für die Zukunft, entschloss sich mit einem Dampfer von Neapel auf die Krim zurückzukehren, zu sich nach Jalta. Er bat sogar Ol’ga Leonardovna in die nächste Stadt Freiburg zu fahren und für ihn für diese Reise und für die Krim zwei Flanellanzüge zu bestellen – den ersten weiß mit blauen Streifen, den zweiten blau mit weißen Streifen. Ol’ga Leonardovna entschloß sich nach Freiburg zu fahren und schlug mir vor, sie zu begleiten.

So machten wir uns an einem schönen Morgen auf den Weg und  nahmen den alten Anzug Anton Pavlovičs als Maß für den Schneider mit. Nachdem wir in Freiburg angekommen und zwei Anzüge bestellt  hatten, beschlossen wir den wunderbaren Tag zu nutzen und diese alte deutsche Stadt und ihre Umgebung zu besichtigen.

Als wir nach Hause kamen, fanden wir Anton Pavlovič friedlich mit meinem Bruder im Garten unseres Hotels spazieren gehen. Im Garten saß eine große Gesellschaft von Deutschen, die sehr laut, schwitzend, unendliche Mengen Bier tranken. Anton Pavlovič, als er uns fröhlich und gutgelaunt zurückkehren sah, begegnete uns und sagte, indem er mich durch seinen Pincenez anblickte: - „Sie haben den ganzen Tag meiner Frau den Hof gemacht“, womit er mich in große Verwirrung stürzte. Aber darauf, ohne meine Entgegnung abzuwarten, wandte er sich zu Ol’ga Leonardovna: - „Und mir, Liebste, schien es die ganze Zeit, dass diese Deutschen mich am Ende schlachten würden.“

An diesem Abend konnte niemand von uns denken, dass nach einigen Tagen Anton Pavlovič im Grab liegen und man ihn auf den langen und letzten Weg nach Moskau senden würde. Schon nach dem Tod Anton Pavlovičs, als ich über ihn mit Dr. Schwoerer sprach, sagte mir dieser, dass Čechov sehr krank gewesen war und er sich über die Leichtsinnigkeit der Ärzte gewundert habe, die ihm in diesem kritischen Gesundheitszustand geraten hätten, Russland zu verlassen und sich auf eine solch weite und erschöpfende Reise ins Ausland zu begeben.

Einige Worte über diesen deutschen Arzt, in dessen Händen Anton Pavlovič gestorben war. Dr. Schwoerer war ein vergleichsweise junger, schöner und im Umgang angenehmer Mensch. Sein Gesicht zeigte, dass er in seinen Studentenjahren einer jener studentischen Verbindungen angehört hatte: die Spuren der Duellschnitte waren als Zeichen auf seinen Wangen zurückgeblieben. Weil er auch meinen Bruder behandelte, hatte ich die Gelegenheit, ihm näher zuzusehen und mich zu überzeugen, dass er ein seriöser und kenntnisreicher Arzt war. Bemerkenswert war, dass er mit einer Russin verheiratet war, mit unserer Moskauerin Elisaveta Vasil’eva Šivago. Aber am erstaunlichsten war, dass ein enger Freund Dr. Schwoerers, ein anderer deutscher Arzt, Dr. Dettermann, ein späterer Professor, der nicht weit vom Kurort Badenweiler praktizierte, ebenfalls mit einer Russin verheiratet war, mit der Schwester von Elisaveta Vasil’eva Šivago. Diese beiden deutschen Ärzte fuhren wegen ihren Frauen häufig nach Moskau, liebten alles Russische und erfreuten sich besonders der Bärenjagd, wenn sie im Winter in Russland weilten. An Dr. Schwoerer und Professor Dettermann, mit dem ich später Bekanntschaft machte, bewahre ich die angenehmsten Erinnerungen.

In der Nacht auf den 2./15. Juli lagen mein Bruder und ich in tiefem Schlaf, nachdem wir spät von einem großen Ausflug in die Berge zurückgekommen waren. Durch den Schlaf hindurch hörte ich plötzlich ein starkes Klopfen an der Tür und die Stimme von Ol’ga Leonardovna, die mich rief. Nachdem ich aus dem Bett gesprungen und zur Tür gelaufen war, sah ich ihr erregtes Gesicht. Sie war im Morgenmantel.

„ Ich bitte Sie sehr, mein Lieber, ziehen Sie sich schnell an und laufen Sie zum Doktor, - Anton geht es schlecht.“

Ich zog mich in aller Eile an und lief zum Doktor, der zehn Minuten vom Hotel wohnte.

Die Nacht war warm, lieblich, im Haus des Doktors schliefen alle bei geöffneten Fenstern. Der Doktor fragte, nachdem er die Glocke in seinem Schlafzimmer gehört hatte: - „Wer ist da?“ Ich rief ihm zu, dass ich auf Bitten von „Frau Čechov“ käme, und dass es ihrem Gatten schlecht gehe. Der Doktor machte sofort Licht in seinem Zimmer, kam zum Fenster und sagte mir, dass er in einigen Minuten im Hotel wäre und bat mich auf dem Weg zum Hotel in der Apotheke einen Behälter mit Sauerstoff zu besorgen. Vom Doktor lief ich zum Apotheker, konnte ihn auch aufwecken und erhielt den gewünschten Sauerstoff. Als ich ins Hotel kam, war der Doktor bereits im Zimmer Anton Pavlovičs. Ich ging hinein und gab ihm den Sauerstoff. Anton Pavlovič saß im Bett, unterstützt von Kissen und gestützt von Ol’ga Leonardovna; er atmete schwer, mit Mühe. Der Doktor gab ihm den Sauerstoff. Nach einigen Minuten flüsterte mir der Doktor zu, ich solle zur Aufsicht hinuntergehen und eine Flasche Champagner und ein Glas besorgen. Ich verschwand erneut und kam nach einiger Zeit mit einer Flasche Champagner zurück. Der Doktor füllte fast das ganze Glas und ließ es Anton Pavlovič trinken. Anton Pavlovič nahm das Glas Champagner  mit Freude, lächelte sein liebenswürdiges Lächeln und sagte: - „Schon lange habe ich keinen Champagner mehr getrunken“, und wie ein Junger leerte er das Glas. Der Doktor nahm das leere Glas, gab es mir, ich stellte es neben der Flasche auf den Tisch.

In diesem Moment, als ich das Glas auf dem Tisch abstellte und Anton Pavlovič den Rücken zukehrte, hörte ich ein irgendwie schreckliches Geräusch, das aus seiner Kehle kam, ähnlich dem, was aus einem Wasserhahn kommt, wenn in ihm Luft ist, - irgendetwas gurgelte. Als ich mich umdrehte sah ich, dass Anton Pavlovič, der von Ol’ga Leonardovna gestützt wurde,  sich auf die Seite umlegte und sich friedlich auf das Kissen legte. Mir schien, dass er sich nach dem schweren Atemholen hinlegte.

Im Zimmer war es still, niemand sprach, und das verdunkelte Licht der Lampe schuf einen düsteren, unheimlichen Eindruck. Der Doktor wich nicht von Anton Pavlovič und fasste ihn schweigend an der Hand. Mir kam nicht in den Sinn, dass er die ganze Zeit den Puls fühlte. Es vergingen einige Minuten völligen Schweigens und mir schien (ich war so weit vom Gedanken an einen nahen Tod Čechovs entfernt), dass sich nun alles, Gott sei Dank, beruhigt hatte und die durchlebte Aufregung schon der Vergangenheit angehörte.

Zu dieser Zeit hatte der Doktor  die Hand Anton Pavlovičs losgelassen, war von ihm weggegangen und näherte sich mir (ich stand am Fuß des Bettes), zog mich halb ins Zimmer und sprach mit halblauter Stimme:

„Alles ist zu Ende, Herr Čechov ist gestorben, wollen Sie das bitte der Frau Čechov mitteilen“...

Ich war verblüfft und konnte nur murmeln:

„Ist das wahr, Herr Doktor?“...

„Leider ja“, antwortete er, indem er offenbar seine Erregung  und das tief erlebte Geschehen überwand.

Unser ganzes Gespräch wurde im halben Flüsterton geführt. Ol’ga Leonardovna verwandte keine Aufmerksamkeit auf uns und lag halb auf seinem Bett, indem sie immer noch Anton Pavlovič stützte und nicht ahnte, dass alles vorüber war. Ich ging leise zu ihr hin, berührte sie an der Schulter und machte ein Zeichen, dass sie sich erheben solle. Sie befreite vorsichtig ihre Hände vom Rücken Anton Pavlovičs, erhob sich und kam zu mir. Ich sagte ihr halblaut, indem ich meine innere Erregung zurückhielt: - „Ol’ga Leonardovna, meine Liebe, der Doktor erklärte, dass Anton Pavlovič verstorben sei“...

Die arme Ol’ga Leonardovna schien im ersten Moment zu versteinern, so schrecklich und unerwartet schien dieser Schlag, aber darauf stürzte sie in Schrecken auf den Doktor, ergriff ihm am Jackenärmel, begann ihn mit allen Kräften zu schütteln und wiederholte unter Tränen auf Deutsch:

„Doktor, das ist nicht wahr, sagen Sie doch, Doktor, das ist nicht wahr!...“

Mit großer Mühe gelang es mir und dem Doktor sie allmählich zu beruhigen und wieder zu sich zu bringen. Der Doktor blieb noch einige Zeit im Zimmer, darauf, als er wegging und erkannt hatte, wie schwer Ol’ga Leonardovna den Tod ihres Mannes aufnahm, bat er mich, alle scharfen Gegenstände vom Tisch wie Messer und andere wegzuräumen und ihr nicht einen dazulassen und bis zum Morgen bei ihr zu bleiben. Er versprach früh am Morgen mit seiner Frau wieder zu kommen und Ol’ga Leonardovna so lange zu sich zu nehmen, wie der Verstorbene noch nicht gewaschen und eingekleidet sei.

Ich muss sagen, dass der Tod Anton Pavlovičs einen tiefen Eindruck auf mich machte. Ich war damals noch sehr jung und in diesen Jahren prägen sich solche Ereignisse besonders stark, fürs ganze Leben ein. Viel stärker als später im Leben. Es war der erste Todesfall, bei dem ich zugegen war und den ich intensiv durchlebte und beweinte. Nötig wäre es gewesen, den Körper Anton Čechovs, der noch auf der Seite lag, auf den Rücken umzudrehen. Ich tat dies nicht und so sollte es mich und den Doktor am Morgen viel Anstrengung kosten, den in der falschen Lage versteiften Körper zu strecken. Es gelang uns nicht völlig, weil der Kopf des Verstorbenen noch ein wenig auf die Seite geneigt verblieb.

Später, im Laufe des Tages, machten mein Bruder und ich Fotografien von dem Verstorbenen, als er im Bett in seinem Zimmer lag, welche später auf den Seiten aller russischer Zeitungen veröffentlicht wurden, und ich erinnere mich, dass der leicht zur Seite geneigte Kopf des Toten bei vielen Unverständnis hervorrief.

Beim Weggang des Doktors beredete ich Ol’ga Leonardovna hinauszugehen und sich auf den Balkon zu setzen. Ich trug zwei Sessel aus dem Zimmer, wir setzten uns. Die Nacht war warm und angenehm. Die Morgendämmerung kündigte sich bereits mächtig an, die Vögel begannen im Park zu singen. Es begann ein wunderbarer Sonnenaufgang, dann der frühe Morgen.

Wir saßen schweigend, erschüttert vom Vorgefallenen,  nur manchmal unterbrochen durch unsere letzten Erinnerungen an Anton Pavlovič. Ol’ga Leonardovna bemerkte plötzlich: - „Aber wissen Sie, Levuška, wir haben für Anton keine Anzüge, sondern Leichengewänder gekauft.“

Früh am Morgen kam der Doktor mit seiner Frau, um Ol’ga Leonardovna zu sich mit zu nehmen. Mit Mühe gelang es uns sie zu bewegen, das Zimmer des Verstorbenen zu verlassen. Ich versprach ihr nach allem zu sehen und zu ihr zu kommen, sobald alles beendet wäre.

Ungefähr um fünf Uhr am Abend ging ich zum Doktor wegen Ol’ga Leonardovna und wir gingen beide ins Hotel.

Wir betraten das Zimmer des Verstorbenen. Das Licht der Abendsonne drang kaum durch die an den Fenstern und der Balkontür herabgelassenen Jalousien.

Der Verstorbene lag auf dem Bett, schon mit Blumen umgeben, mit gekreuzten Händen auf der Brust und mit dem Ausdruck vollkommener Ruhe im Gesicht.

Ich ließ Ol’ga Leonardovna allein, damit sie von Anton Pavlovič Abschied nehmen konnte. Am späten Abend ging sie aus dem Zimmer des Verstorbenen, irgendwie ganz gefasst und ruhig. Ich begleitete sie erneut zum Doktor, wo sie diese Nacht bleiben sollte.

Den ganzen 2./15. Juli hatte ich mit Besorgungen und Mühen verbracht. Auf Bitten Ol’ga Leonardovnas hatte ich eine ganze Reihe von Telegrammen über den Tod Anton Pavlovičs verschickt: - der Familie Čechovs in Jalta, der Schwägerin Ol’ga Leonardovnas, Elena Ivanovna Knipper in Dresden, Stanislavskij, Wišnevskij, Gor’kij, ans Künstlertheater, an die Redaktion der „Russischen Annalen“ und anderen russischen Zeitungen in Moskau, und ebenso dem Berliner Korrespondenten der „Russischen Annalen“ G. B. Iollos in Berlin. Von ihm aus Berlin und von Elena Ivanovna aus Dresden kamen die Antworttelegramme, dass sie nach Badenweiler führen und am nächsten Morgen ankämen.

In der Nacht auf den 3./16. Juli sollte der Körper Anton Pavlovičs vom Hotel in  die kleine örtliche Kapelle gebracht werden, dies sollte spät in der Nacht geschehen, wenn alle im Hotel schon schliefen.

In der Nacht kam der Hoteldiener und teilte uns mit, dass die Gepäckträger gekommen seien. Wir gingen ins Zimmer Anton Pavlovičs. Diese Leute brachten anstatt gewöhnlichen Tragebahren einen großen langen Wäschekorb. Ich erinnere mich, wie diese Art des Transportes des Verstorbenen meinen Bruder und mich verärgerte. Wir mussten wortlos mit ansehen, wie die sterblichen Überreste unseres geliebten russischen Schriftstellers in einem Wäschekorb weggetragen wurden.

Die Träger hoben den Körper vorsichtig auf und begannen ihn in den Korb zu legen, aber zu ihrer Überraschung erwies sich die Länge des Korbes als nicht ausreichend, um den Körper völlig waagrecht legen zu können und so musste er in eine halb liegende Position gebracht werden.

Indem wir die Träger beobachteten, die den Körper des Verstorbenen hineinlegten, schien es mir eine Minute lang, als ob ich im Gesicht Anton Pavlovičs das bekannte Lächeln sähe und es erschien in meiner Vorstellung, dass er deswegen lächelte, weil das Schicksal ihn auch dieses Mal ihn nicht ohne Humor scheiden ließ, indem es den Transport seines Körpers nicht auf gewöhnliche Weise, sondern in einem Wäschekorb geschehen ließ. Wir trugen den Korb mit Anton Pavlovič auf die Straße. Die Nacht war finster. Die Gepäckträger begannen in Richtung Kapelle zu gehen. Der Weg wurde von zwei an der Seite gehenden Fackelträgern beleuchtet. Als wir in die Kapelle kamen, legten mein Bruder und ich den Körper Anton Pavlovičs auf einen Platz, der für  Verstorbene vorbereitet war, umlegten ihn mit Blumen und nachdem wir uns betend von ihm verabschiedet hatten, gingen wir nach Hause.

Soweit ich mich erinnerte, erzählte mir Ol’ga Leonardovna später, schon in Moskau, dass das Schicksal noch ein letztes Mal mit einem čechovschen Lachen gespottet habe, als beim Hinübertragen des Sarges des Verstorbenen an der Grenzstation von einem deutschen in einen russischen Waggon, dieser Waggon die Aufschrift getragen hätte: „Für Austern“.

Am nächsten Tag den 3./16. Juli kamen morgens in Badenweiler Elena Ivanovna aus Dresden und G.B. Iollos aus Berlin an. Der Tag, wie alle Tage, war sehr heiß und schwül. Das Treffen Ol’ga Leonardovnas mit Elena Ivanovna, mit dem ihr nächsten Menschen, trug einen schweren, anrührenden Charakter.

Im Laufe des Tages berichtete Ol’ga Leonardovna dem angereisten G. B. Iollos alle Einzelheiten der letzten Tage und Lebensstunden Anton Pavlovičs für die Berichte über diese Ereignisse in der russischen Presse und übergab ihm auch die fotografischen Aufnahmen vom Verstorbenen.

An diesem Abend gingen wir alle in die Kapelle, um zu beten und uns von dem Verstorbenen zu verabschieden.

Nach einigen Tagen begleiteten wir den Sarg Anton Pavlovič aus Badenweiler auf die Eisenbahnstation. Der Waggon mit dem Sarg wurde an einen Passagierzug angehängt, der nach Berlin fuhr. Und mit diesem Zug fuhren auch Ol’ga Leonardovna und Jelena Iwanowna, die den Verstorbenen begleiteten, nach Russland zurück, um Anton Pavlovič der Erde im heimatlichen Moskau im Neujungfrauenkloster zu übergeben.

L.L. Rabenek

H.S.: Als Fußnote gibt Leo Rabenek im russischen Text neben dem Original der deutschen Sätze, welche Dr. Schwoerer und O.Knipper miteinander wechselten, noch  an, dass er den Satz Čechovs „Ich sterbe“, den Čechov nach den Erinnerungen Ol’ga Knippers vor seinem Tode auf deutsch gesprochen hatte, nicht gehört habe, da er in diesem Moment wohl unterwegs zur Apotheke gewesen sei, um Sauerstoff zu besorgen. Dann fährt Rabenek fort:

An einen hereingeflogenen schwarzen Nachtfalter erinnere ich mich ganz deutlich, nur kann ich jetzt nicht mehr sagen, ob er vor dem Tod Anton Pavlovičs hereingeflogen war oder erst nach seinem Abscheiden.

Text von Andrew Rabenek, London,
dt. Übersetzung, Ergänzungen, Kommentare: Heinz Setzer, Badenweiler