Eine Begegnung mit Strahlkraft. Die letzte russische Namensträgerin der Tschechow-Familie in Badenweiler.
Dass das Selbstverständnis eines aktiven Museums heute weit über das Sammeln und Präsentieren hinausreicht, ist mittlerweile bekannt. Nun konnte das Literarische Museum Badenweiler „Tschechow-Salon“ vom 25.-28.2.2016 erneut unter Beweis stellen, dass es in diesem Sinne ein Ort für außergewöhnliche Begegnungen und Kulturdialoge darstellt.
Im September 2015 hatte das Netzwerk des Museums dessen Leiter, Heinz Setzer, zur Internationalen Tschechow-Konferenz auf die fernöstliche Insel Sachalin geführt, wo er das neue Museum in Wort und Bild vorstellte.
Dort hatte er die letzte Namenträgerin in Russland aus der Familie Anton Tschechows, Prof. Jewgenia Filippowna Tschechowa, kennen gelernt, die als Ehrengast angereist war. Als danach das SWR-Fernsehen Setzer um eine Empfehlung für die Sendereihe „Ich trage einen großen Namen“ bat, schlug er Tschechowa vor, die nun zur Sendeaufzeichnung nach Baden-Baden eingeladen wurde. Die 74-Jährige ist die Frau des bereits 1975 verstorbenen sowjetischen Avantgarde-Künstlers Sergej Tschechow, der wiederum der Enkel des jüngsten Bruders des Schriftstellers und Dramatikers Anton Tschechow war. Zwar ging aus der Ehe Sergejs und Jewgenias der Sohn Iwan hervor, doch dieser erlag 2014 einer Krankheit noch vor seinem 40. Lebensjahr. Ein Schicksalsschlag, der die ganze Familie berührte, denn auch alle anderen vier Geschwister Anton Tschechows blieben kinderlos oder hatten keine noch heute lebenden Nachkommen, so dass jetzt Jewgenia Tschechowa die letzte direkte Namensträgerin in Russland darstellt. Die bekannte deutsche Schauspielerin Vera Tschechowa, Enkelin der UFA-Schauspielerin Olga Tschechwa, die in Berlin lebt, ist genealogisch weiter entfernt. Der Wunsch Jewgenias, den Sterbeort ihres berühmtesten Familienmitglieds zu sehen, war mithin auch ein Argument, die Einladung des SWR anzunehmen. Dabei ist Jewgenia, deren Humor und einnehmendes Lächeln dem des Schriftstellers kaum nachzustehen scheint, nur über die Familientradition mit der Literatur verbunden, beruflich war sie Professorin am Staatlichen Physikalischen Institut der Universität Moskau, also wie der Arzt Anton Tschechow der Naturwissenschaft verpflichtet. Nach Deutschland reiste sie jetzt in Begleitung ihrer Freundin, der Anglistin Prof. Nina Lewkowskaja vom Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen, der Diplomatenkaderschmiede Russlands, was der Reise auch eine kleine politische Nuance verlieh.
Das von beiden Gästen mit großem Vergnügen genossene Besuchsprogramm Badenweilers dürfte damit in Russland auch außerhalb der Literaturszene Interesse erregen: Am 25.2. die obligatorische Besichtigung des neuen Museums, des Kurparks und der Tschechow-Denkmäler mit Setzer, dann Empfang bei Bürgermeister Karl-Eugen Engler mit Eintrag ins Goldene Buch, auch unter Teilnahme der Vorstandsmitglieder der Dt. Tschechow-Gesellschaft (DTG) Elisabeth Hartmann und Jana Wenzel (beide auch dt.-russ. Übersetzer), Rolf Langendörfer, Dieter Schreck und Rolf Siegismund. Am Folgetag dann ein ganztägiger Ausflug nach Freiburg, wo sich das universitäre Netzwerk der DTG wieder bestens bewährte. Dem Vorstandsmitglied, der Slawistin Dr. Regine Nohejl sowie Konstantin Rapp, M.A., der gerade seine Promotion über Napoleon und Russland abschließt und russischer Muttersprachler ist, gelang es, mit einer kulturhistorischen Uni-, Münster- und Stadtführung die Badenweilerer Truppe fünf Stunden lang in Bann zu halten. Dann am 27.2. eine große Exkursion ins Elsass, nicht nur, weil Frankreich für Russen ein Sehnsuchtsland ist, sondern vor allem, weil zwischen Badenweiler, Russland und dem Elsass außergewöhnliche literaturgeschichtliche Bande existieren. Zum einen durch den elsässischen Schriftsteller und Badenweilerer Wahlbürger René Schickele, den Vorkämpfer für die deutsch-französische Aussöhnung und Impulsgeber für ein geeintes Europa, – ein Thema, das bei russischen Gästen stets große Aufmerksamkeit findet. Zum anderen über das Schicksal des vielgeliebten russischen Nationaldichters Alexander Puschkin, der von dem jungen elsässischen Gardeoffizier in russischen Diensten, Georges-Charles d’Anthès aus Soultz, seinem Schwager (!), am 14.2. 1837 im Duell tödlich verletzt wurde. Ihren Anfang hatte diese Katastrophe aus Ehre und Eifersucht genau vor 180 Jahren, 1836, genommen, als Puschkin, der einen heißblütigen Abessinier in seinen Ahnen hatte, D‘Anthès verdächtigte, seiner Gattin Nathalie den Hof zu machen und ihm Hörner aufzusetzen. Im Musée Château Bucheneck in Soultz führte uns Museumsleiterin Marie Soarez exklusiv als Gäste der Stadt Soultz durch die Puschkin und D’Anthès gewidmeten Abteilungen.
Die Folgen des Duells, das heute noch die russischen Gemüter aufs Heftigste bewegt, fand in Soultz nach Puschkins Tod seinen Fortgang: D’Anthès wurde degradiert, aus Russland ausgewiesen und ging mit seiner Frau, Nathalies Schwester Cathérine, zuerst nach Baden-Baden, dann nach Soultz ins väterliche Schloss, wo er zum hoch geachteten Bürgermeister wurde. Doch damit hatte seine steile Karriere gerade erst begonnen: zuerst als Präsident des Elsass in Straßburg, danach in Paris als Senator Frankreichs, Freund Napoleons III und zusammen mit dem Elsässer Haussmann architektonischer Umgestalter des neuen Paris. 1895 starb er als deutscher Altbürgermeister in Soultz, war doch das Elsass 1871 wieder deutsch geworden. Für die beiden russischen Gäste war D’Anthès, dessen Nachkommen heute noch leben, ganz selbstverständlich der „Mörder Puschkins“, obwohl es dieser selbst gewesen war, der sich das Duell „blutig“ gewünscht hatte. D’Anthès hätte in die Luft schießen können… so die geläufige russische Argumentation. Dass D’Anthès selbst nur leicht verletzt überlebt hatte, war aber nur einem fast unglaublichen Glücksfall zu verdanken.
Colmar mit seinem durch den französischen Präsidenten Hollande kürzlich wieder eröffneten Musée d’Unterlinden war der absolute Exkursionshöhepunkt, eilt doch Matthias Grünewald auch in Russland ein legendärer Ruf voraus. Und die Fülle faszinierender Malerei der Gotik und Renaissance kennt in Russland wohl kaum Vergleichbares. Eine Erkenntnis hatte sich jedenfalls bei den Gästen eingestellt - es sind der gemeinsame deutsch-französische Einfluss und der kulturelle Lebensstil, die das Oberrheingebiet schon vor über 100 Jahren für Russen so attraktiv werden ließen. Badenweiler erhielt übrigens herausragende Noten: so schöne Häuser gäbe es nicht einmal in Baden-Baden – und das Thermalbad sei ein Traum. Erfreuliche kulturelle Eindrücke, die nachwirken dürften – doch was vielleicht noch wichtiger ist: Auch wenn diese Begegnung nur ein winziges Element der allgemeinen deutsch-russischen Beziehungen sein konnte, sollte sie doch über die neu entstandenen persönlichen Kontakte mit Badenweiler dazu beitragen, den friedlichen Dialog zwischen Russland und dem Westen zu bewahren. Badenweiler ist zumindest in Russland mit seinem Museum und seiner vielschichtigen Literaturtradition nachgerade ein symbolischer Begriff für gute grenzüberschreitende Begegnungen geworden.
Heinz Setzer